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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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Kaugummi. Stattdessen steckt sie sich mit der fast heruntergebrannten Kippe gleich die nächste an und schnippt den noch qualmenden
Stummel in hohem Bogen fort. Menschen kommen ihr entgegen, sie erinnert sich an das, was ihre Mutter früher immer gesagt hat: »Nur leichte Mädchen rauchen auf der Straße.« Eva will leicht sein. Ganz leicht, wegschweben, bis sie alles von oben sieht.
    Sie kommt an einem Tattoo-Studio vorbei und bleibt stehen. Im Schaufenster Fotos von Armen, Beinen, Gesichtern, Oberkörpern, über und über mit bunten Bildern geschmückt. »We’re open«, steht auf dem Schild, das in der Tür hängt. Eva drückt die Klinke herunter und betritt den Laden. Einen Moment steht sie unschlüssig vor dem leeren Tresen, auf dem eine dicke Mappe mit noch mehr Fotos von noch mehr tätowierten Körpern liegt. Schon oft ist sie an dem Geschäft vorbeigelaufen, aber noch nie ist sie hineingegangen. Jetzt auch nicht. Es hat sie hineingezogen.
    »Hallo?« Ein junger Mann kommt durch den Vorhang, der ein Zimmer vom Vorraum abtrennt. Muskulöse Arme blitzen aus einem engen T-Shirt hervor, auch diese sind voller Bilder und Zeichen.
    »Ich möchte mich tätowieren lassen«, sagt Eva, ohne den Gedanken bewusst formuliert zu haben. Der Mann mustert sie argwöhnisch, lässt seinen Blick über sie gleiten. Sie: in Palazzohose mit Nadelstreifen, schwarzen Pumps, weißer Bluse, darüber ein beigefarbener Mantel aus Kaschmir.
    »Da musst du dir einen Termin geben lassen«, erklärt er schroff.
    »Das geht nicht.« Sie versucht, so entschlossen wie möglich zu klingen. »Es muss sofort sein, ich kann das
nicht aufschieben.« Ihr energisches Auftreten scheint ihn zu überraschen, denn für einen Moment sieht er sie sprachlos an. Dann schlägt er ein Buch auf, das neben der Mappe mit den Bildern liegt.
    »In Ordnung«, sagt er. »Eine halbe Stunde hätte ich noch. Reicht aber nur für was Kleines. Was soll’s denn sein?«
    »Zwei Kreuze«, sagt Eva. »Hier eins«, sie zeigt auf die linke Seite ihres Halses. »Und noch eins, hier.« Jetzt hält sie die Hand an die rechte Seite.
    »Das mache ich nicht.« Er verschränkt seine bunt verzierten Arme vor der Brust.
    »Wieso nicht?«
    »Du hast doch einen an der Klatsche!«
    »Ich bezahle das auch.«
    »Mir egal.«
    »Ich bin nicht verrückt«, versucht sie es nun mit einem versöhnlicheren Tonfall. »Aber ich muss ein Zeichen setzen.«
    »Dann lass dir das woanders machen. Ich tätowiere dir nicht den Hals.« Er sieht sie noch einmal auf diese bestimmte Art und Weise an, die ihr verrät, was er gerade denkt: Was will die hier?
    »Gut«, lenkt sie ein, streift die Ärmel ihres Mantels hoch und wendet ihm ihre nackten Handgelenke zu. »Dann hier.«
    Er zögert einen Moment, scheint zu überlegen. »Das wird wehtun.«
    »Ich weiß.«
    Wieder ein kurzes Zögern von ihm. Dann zuckt er
mit den Schultern, zieht den Vorhang hinter sich beiseite und deutet auf eine Art Zahnarztstuhl, der dort steht. »Setz dich da hin.«
     
    Eine halbe Stunde später verlässt sie das Geschäft. Um die Handgelenke hat sie Frischhaltefolie gewickelt, darunter hat der Tätowierer die Haut mit Vaseline eingerieben und ihr eingeschärft, wie sie die Stellen in den nächsten Tagen pflegen soll. Es blutet ein bisschen. Aber das Tätowieren selbst war gar nicht so schmerzhaft, im Gegenteil, fast angenehm war das Gefühl, als er die Farbe mit feinen Nadeln in ihre Haut stach. Da hat sie schon andere Schmerzen erlebt. Eva reibt über die Folie und stellt sich die Embleme darunter vor. Ein Kreuz links, ein blaues. Und ein schwarzes auf der rechten Seite.
    Ihr Handy klingelt zum ungefähr zehnten Mal, diesmal ist es die Mailbox, auf der Tobias vermutlich schon mehrere Nachrichten hinterlassen hat. Sie zündet sich noch eine Zigarette an, dann spaziert sie die Hoheluftchaussee heimwärts zurück zur Isestraße, geht unter der Brücke der U-Bahn hindurch und erzittert jedes Mal, wenn einer der Züge über sie hinwegdonnert. Erst nach ein paar Minuten fällt ihr auf, dass Marlene wieder da ist und sie begleitet.
    »Zeig mal«, bittet ihre Schwester.
    Sie zieht die Folie ein Stück zur Seite und lässt Marlene einen Blick auf die Kreuze werfen. »Gefällt es dir?«
    Marlene nickt. »Ja, hübsch.« Sie streicht erst über das farbige Kreuz, dann über das schwarze, das für sie
selbst steht. »Viel besser als mein Grabstein. Der steht so allein auf dem Friedhof herum, lieber bin ich bei dir.«
    »Bleibst du denn hier?«,
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