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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester
Autoren: Wiebke Lorenz
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Augenwinkeln wahrnimmt, vielleicht weil man sich fragt, ob der Mann wirklich bei der Marine war oder den Mantel irgendwo gekauft hat.
    Das alles ist es nicht, was Evas Handgelenke zum Kribbeln bringt. Es ist die Art, wie er sie ansieht. Wie ein plötzliches Erkennen; wie wenn man ein Bild betrachtet, das man früher schon einmal irgendwo gesehen hat, aber man weiß nicht mehr genau, wann und wo. Es ist eine Art Déjà-vu, das Eva an seinem Blick ablesen kann und das sie auf seltsame Art und Weise - ohne, dass sie begreift, weshalb - gefangen nimmt. Seine
Gesichtszüge wären normalerweise weich, beinahe jungenhaft, aber jetzt sind sie angespannt, eine steile Falte hat sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet. »Marlene?« Sie weiß gar nicht, ob er das wirklich sagt oder ob sie es nur hört, sie antwortet nicht, sondern blickt ihn nur an. »Marlene?« Doch, sie sieht, dass er seine Lippen bewegt, wie er mit einer schnellen, flüchtigen Bewegung seine Brille anhebt und sich über die Augen streicht, als würde er versuchen, ein Trugbild zu verscheuchen.
    »Sie haben meine Schwester gekannt?«
    Nun wird die Falte noch steiler, wieder nimmt der Mann seine Brille ab und streicht sich kurz über die Augen. Aber er sagt nichts.
    »Ich bin Eva«, erklärt sie schließlich. »Marlene war meine Zwillingsschwester.« Er starrt sie weiter wortlos an. »Wollten Sie«, bringt Eva unsicher hervor, die es nicht mehr gewohnt ist, so taxiert zu werden, »zu meiner Schwester?«
    »Das wusste ich nicht.« Die Worte sind nicht viel mehr als ein Murmeln, fast hätte sie ihn nicht verstanden. Zuerst begreift sie nicht, was er meint, braucht ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass er nichts von einem Zwilling Marlenes wusste. Jetzt lässt der Mann den Tisch, an dem er sich immer noch festhält, wieder los, seine Schultern straffen sich, die Falte zwischen seinen Augen verschwindet. Tatsächlich scheint er zu versuchen, so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen.
    »Dann sind Sie Barbro«, stellt er fest. Seine Hand schnellt vor, um sie Eva zu reichen. Doch dann zieht er
sie wieder zurück und versteckt sie in einer Tasche seines Colani-Mantels. Barbro . Evas Körper wird von einer heißen Welle durchspült, mit einem Mal ist ihr regelrecht schwindelig. So hat sie lange niemand mehr genannt. So lange, dass sie es beinahe schon vergessen hätte. Aber das war ja auch in einem anderen Leben, in einem, das Ewigkeiten hinter ihr liegt. Barbro und Ylva-Li.
     
    Marlene wurde ein Jahr vor Eva eingeschult. Im Alter von fünf Jahren.
    »Aber Eva ist noch nicht so weit«, hatte man ihren Eltern nach der schulärztlichen Untersuchung erklärt. »Geben Sie ihr lieber noch etwas Zeit, sie ist noch zu verspielt. Irgendwann würde sie sonst darunter leiden, die Leistungsschwächere zu sein. Für die Entwicklung der Zwillinge ist es sowieso besser, wenn sie in verschiedenen Klassen oder Stufen sind. Das hilft ihnen, eine eigene Identität herauszubilden.« Also ging Marlene zum Unterricht und Eva nicht. Obwohl Eva mit sechs Minuten Vorsprung die Ältere war.
    Abends, wenn sie in ihren Betten lagen, die im Kinderzimmer nebeneinander standen, las Marlene ihr zum Einschlafen etwas vor. Weil sie es ja schon früher konnte und Eva doch so gern Geschichten hörte. Allerliebste Schwester von Astrid Lindgren war ihre Lieblingsgeschichte. Wieder und wieder wollte sie die Erzählung vorgelesen bekommen, obwohl Marlene sie noch stockend und langsam vortrug. Von Barbro und ihrer Zwillingsschwester Ylva-Li, die draußen im Garten in
einer Höhle unter einem Rosenstrauch lebte. Wenn die Rosen des Salikons verwelken, werde ich tot sein, sagte Ylva-Li zu Barbro. An dieser Stelle musste Eva immer weinen. Marlene nahm sie dann in den Arm und tröstete sie, indem sie versicherte, dass es ja nur eine Geschichte sei, so wie die vielen anderen von Goldi und ihrer Dreckpuppe oder wie die von Märit, die von einem Felsbrocken erschlagen wird, weil sie ihren Schwarm Jonas Petter retten will. Traurige Geschichten, ja, aber eben nur Geschichten.
     
    »Ich wusste nicht«, widerholt der Mann im Colani-Mantel, »dass Marlenes Schwester ein Zwilling ist.« Er räuspert sich. »Sie hat von Ihnen erzählt, aber nicht erwähnt, dass Sie Zwillinge sind. Noch dazu offensichtlich eineiige.«
    Eva lächelt ihn an. »Na ja«, mutmaßt sie, »vielleicht, weil es in der Geschichte auch ein Geheimnis war?« Ihr ist, als höre sie Marlenes Stimme, die den ersten Satz vorliest: Jetzt will ich
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