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Aller Anfang ist Mord

Titel: Aller Anfang ist Mord
Autoren: Jutta Maria Herrmann
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Fingerspitzen nachzeichnen, ihren Hals küssen.
    Er greift nach seiner Tasche, stellt sie auf seinen Schoß, spürt, wie ihm die Schamröte ins Gesicht steigt. Er schluckt, schaut konzentriert aus dem Fenster.
    Die Türen des Busses schließen sich mit einem leisen Ratschen. Sie fahren los.
    Es wird nicht mehr vorkommen, denkt er. Es lag am Alkohol. Der Alkohol war schuld.
    Er trinkt jetzt nicht mehr. Er ist trocken. Er wird die Kontrolle nicht mehr verlieren.
    Er will nicht mehr ins Gefängnis. Nie mehr. Es war die Hölle. Die Verachtung, die Demütigungen, die Gewalt. Er hat sich noch nie so wehrlos gefühlt.
    *
    Ich erwache in den Klamotten von gestern. Im Zimmer stinkt es nach kaltem Rauch. Wie spät ist es? Wieso hat sie mich nicht geweckt? Ich schwinge meine Beine aus dem Bett, gähne, reibe mir die Augen. Ich öffne das Fenster und klappe die Läden auf. Die Sonne blendet mich. Ich blinzele und beschirme mit einer Hand meine Augen. Da sehe ich ihn. Auf der Straßenseite gegenüber. Ich halte die Luft an, mein Herz klopft, als würde es zerspringen. Er sieht zu mir hoch.
    Ich weiche zurück, vom Fenster weg, in den Schatten des Zimmers.
    Seine Stimme ist wieder in meinem Kopf:
    Mein Baby, meine Kleine.
    Ich spüre wieder, wie sich seine Hand auf meinen Mund presst.
    Nicht schreien. Es soll doch unser Geheimnis bleiben.
    Ich wimmere, halte mir die Ohren zu. Ich will die Stimme nicht hören. Es soll aufhören. Ich sinke auf mein Bett, vergrabe das Gesicht im Kissen.
    *
    Du sitzt am Fenster. Deine Augen brennen. Du schließt sie für einen kurzen Moment.
    Als du sie wieder öffnest, steht er plötzlich da. Auf der anderen Straßenseite. In der Hand eine Tasche. Er schaut unverwandt herüber.
    Du bist zu müde, um dich zu erschrecken.
    Du denkst, vielleicht geht er ja wieder.
    Du siehst, wie er sich in Bewegung setzt, die Straße überquert.
    Wie verhärmt er aussieht, denkst du. Und so schmal. Die Zeit im Gefängnis hat ihn gezeichnet.
    Was für Gedanken – wie kannst du Mitleid für ihn empfinden?
    Du stehst auf. Hinter dir fällt der Stuhl polternd zu Boden.
    Du gehst zur Haustür und öffnest sie.
    Du siehst ihm ruhig entgegen.
    „Karin“, sagt er.
    Du sagst nichts.
    Er lächelt verunsichert. „Darf ich reinkommen?“
    Du gehst zur Seite.
    Er zögert kurz, dann tritt er über die Schwelle.
    Du schließt die Tür hinter ihm.
    Er stellt seine Tasche ab, hängt seinen Mantel an die Garderobe.
    Du riechst seinen Schweiß. Das Hemd klebt nass an seinem Rücken.
    Er dreht sich zu dir um, sagt: „Da bin ich wieder.“
    Du nickst mit unbewegter Miene. Lässt ihn nicht aus den Augen.
    Er weicht deinem Blick aus, dreht sich weg, geht in die Küche.
    Du folgst ihm.
    Er schaut sich um. „Hier hat sich nichts verändert“, sagt er. Er nimmt einen Apfel aus der Schale auf dem Küchentisch, legt ihn wieder zurück. „Alles beim Alten.“
    Du lehnst dich mit dem Rücken gegen die Anrichte, verschränkst die Arme. Sagst leise: „Nein.“
    Er sieht dich an, runzelt die Stirn. „Was?“
    „Nichts ist beim Alten“, sagst du. Deine Stimme zittert nur leicht.
    „Ist was mit Sina?“, fragt er hastig. Sein Blick flackert. „Wie geht es ihr? Ist sie oben?“
    „Sie will dich nicht sehen“, sagst du.
    „Ich will mit ihr reden“, sagt er.
    „Sie aber nicht mit dir“, sagst du.
    Er geht Richtung Tür. „Das will ich von ihr hören.“
    Du stellst dich ihm in den Weg, sagst: „Nein!“
    „Lass mich vorbei“, sagt er.
    Du sagst es noch mal: „Nein!“
    Er schiebt dich beiseite.
    Du schreist: „Niemals!“
    Du weißt nicht, wie das Messer in deine Hand gekommen ist.
    *
    Was war das? Ein Schrei? Ich hebe den Kopf, wische mir mit der Hand den Rotz unter der Nase weg. Da, wieder. Ich springe auf, drehe den Schlüssel in der Tür, renne die Treppe hinunter. „Mama?“
    Sie steht in der Küche, regungslos, den Blick gesenkt. Er liegt auf dem Boden. Ich gehe vorsichtig näher. „Mama?“
    *
    Du löst den Blick von seinem Körper, bringst das Messer zur Spüle, drehst den Hahn auf und hältst die Klinge unter den Wasserstrahl.
    „Mama“, sagt Sina und legt ihre Hand auf deine Schulter.
    Mama, denkst du, sie hat Mama gesagt. Es ist lange her, dass sie das zu dir gesagt hat.
    Du probierst ein Lächeln und sagst: „Es tut mir so leid.“

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