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Aller Anfang ist Mord

Titel: Aller Anfang ist Mord
Autoren: Jutta Maria Herrmann
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die die Zufahrtsstraße überdeckt.
    Ich war tatsächlich für einen Moment abgelenkt. Grulich nebenan hat gesungen. Etwas, was wohl eine Arie sein sollte, da bin ich rüber zur linken Zimmerseite, habe mit der Faust gegen die Wand geklopft. Grulich, es ist noch zu früh, habe ich gerufen.
    Jetzt stehe ich wieder am Fenster, presse meine Stirn gegen die Eiskristalle auf der Scheibe und sehe, dass ich es verpasst habe. Der Wagen ist bereits vorgefahren. Die Scheinwerfer der automatischen Beleuchtung brennen. Über dem Vorplatz liegt ein gelblicher Schein, in dem selbst die angeschlagene Fassade des Gebäudes freundlich, geradezu einladend aussieht. Besucherzirkus nennen das die Zivis.
    Ich öffne das Fenster einen Spalt. Stimmfetzen wirbeln mit den Schneeflocken zu mir hoch. Die schrille Tonlage von Frau Lebermann kenne ich nur zu gut. Ich beuge mich etwas vor, kann sie aber dennoch nicht sehen. Sie wird genau wie bei meiner Ankunft unten auf der breiten Treppe stehen, mit ausgebreiteten Armen, wie auf einer Freilichtbühne. Und sie wird dieses wallende Kleid tragen, das sie immer anzieht, wenn die Neuzugänge kommen.
    Saalfeld ist hier. Er ist jetzt einer von uns. Ich spreche die Worte leise vor mich hin, auch wenn mein Gehirn noch nicht viel damit anfangen kann, rauscht der Widerklang mit dem Blut in meinen Ohren.
    Vom Eingangsportal ertönt das leise Surren der hydraulischen Plattform. Er sitzt also tatsächlich im Rollstuhl, denke ich. Das ist gut, die anderen Informationen aus den anonymen Briefen, die Huber bekommen hat, werden dann sicher auch stimmen.
    Saalfeld als alter Mann, schwerbehindert und hinfällig, vielleicht von einem Pfleger geschoben, es fällt mir schwer, dieses Bild in meinem Kopf zu entwickeln. Ich kenne ja nur die Fotos. Vierzig Jahre alt, grobkörnig auf vergilbtem Zeitungspapier.
    Eine Weile stehe ich noch am offenen Fenster. Die Heizung in der Nische zu meinen Füßen arbeitet auf Hochtouren. Ich drücke meine Oberschenkel gegen die heißen Rippen, bis ich die Schmerzen spüre.
    Auf dem Vorplatz verlöschen plötzlich die Scheinwerfer. Mein Gehirn dichtet einen leisen Knall dazu, obwohl es völlig lautlos geschieht. Die Fassade sinkt zurück in unbedeutendes Grau und wird nur noch von zwei winzigen Strahlern mühsam notbeleuchtet.
    In den Himmel hinein sage ich ein paar Worte zu Mathilde. Mit Lena spreche ich nicht mehr. Ich glaube, ich habe nach fünf oder sechs Jahren aufgehört. Wir hatten nicht genügend Zeit miteinander, sie war ja noch so klein. Meine Erinnerung verblasste, obwohl ich verzweifelt dagegen ankämpfte, und als ich feststellte, dass ich nicht mehr wusste, welche Augenfarbe sie hatte, da habe ich es von einem Moment zum anderen beendet.
    Unten schlagen Autotüren und reißen mich aus meinen Gedanken. Ein Motor wird gestartet. Der Pkw wendet auf dem Vorplatz. Die Verwandten von Saalfeld fahren wieder nach Hause. Ein Mann, sein Sohn vermute ich, daneben eine Frau, ich sehe die Silhouetten auf den Vordersitzen im schwachen Licht der Armaturen. Der Wagen schneidet einen frischen Schienenstrang in das Weiß und biegt dann auf die Landstraße ab.
    *
    Ein Wecker schrillt. Es ist ein klassisches Modell mit zwei Glocken, zwischen denen ein Klöppel im raschen Tempo schwingt. Der Wecker steht auf Hubers Nachttisch, gegenüber in seinem Zimmer, auf der anderen Seite des Flurs. Es sind sicher zehn, zwölf Meter Luftlinie und zwei Wände dazwischen, trotzdem ist der Klang laut und hart, als ob er direkt neben meinem Ohr erzeugt würde.
    Die Zimmerwände sind einfach zu dünn, sie dämpfen dieses Geläut kaum und reichen bei Weitem nicht aus, um uns alte Männer mit unseren Geräuschen gegeneinander abzuschirmen. Grulich singt regelmäßig vor dem Abendessen. Aber das kann ich gut ertragen, auch an das Schnarchen von den Anderen habe ich mich irgendwann gewöhnt. Wirklich schlimm ist aber diese Gleichförmigkeit im Ablauf der Geräusche und die Verzweiflung, die in allem mitklingt. So wie bei Homann, der an manchen Tagen stundenlang durch sein Zimmer streift. Schwere, langsame Schritte, von rasselnden Atemzügen begleitet und zwischendurch immer wieder ein gedämpftes Seufzen, wie hinter vorgehaltener Hand.
    Huber dagegen führt Selbstgespräche. Erzählt kleine Abschnitte aus seinem Leben, von seiner Heirat, wie die Kinder zur Welt kamen, solche Dinge. Manchmal stellt er sich direkt hinter seine Zimmertür, dann höre ich ihn besonders gut. Er hat eine sonore Stimme, der man gerne
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