Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Aller Anfang ist Mord

Titel: Aller Anfang ist Mord
Autoren: Jutta Maria Herrmann
Vom Netzwerk:
zuhört, aber die Geschichten wiederholen sich unendlich. Über die Zeit nach dem Unglück allerdings spricht er mit sich nie.
    Im letzten Jahr – ich war gerade erst hier eingezogen – hat er sich an einem Tag ununterbrochen von einem Urlaub mit seiner Frau an der Ostsee erzählt. Eigentlich hat er sogar geschrien, einzelne Worte zumindest, der Rest verschliff sich zwischen den Wänden. Luise, Strandkorb, Eisdiele, Luftmatratze – wieder und wieder hörte ich diese Litanei. Irgendwann konnte ich nicht anders. Ich bin rüber, habe an seine Tür geklopft. Huber hat da gestanden mit roten Augen und gemeint, nein, er wäre ganz ruhig gewesen, hätte nur ein Kreuzworträtsel gelöst. Außerdem würde er mich gar nicht kennen.
    Erst am Abend erfuhr ich von Schwester Karin, dass der Huber an diesem Tag seine goldene Hochzeit hatte. Die Frau sei ja nun schon fast vierzig Jahre tot, meinte sie, aber es würde ihn wohl immer noch sehr mitnehmen. Von den beiden Kindern, die ebenso lange tot sind, hat sie mir damals nichts gesagt.
    Ich habe mich geschämt. Vor dem Zubettgehen habe ich aus einem Versteck eine Flasche Wein geholt, bin nochmal rüber zu ihm und habe ihn, ohne etwas zu sagen, kurz umarmt. Dann habe ich ihm die Flasche in die Hand gedrückt. Huber hat blöd geguckt, den Wein aber trotzdem genommen. Ich habe mich an ihm vorbei in sein Zimmer gedrängelt und mich auf einen Sessel gesetzt. An diesem Tag haben wir das erste Mal lange miteinander geredet.
    Jetzt liegt er im Sankt Anna. Vor drei Wochen haben sie ihn geholt und gleich auf die Intensivstation gebracht. Von dort kommt keiner mehr zurück, hat Homann gemeint, und bei Hubers Zustand ... man müsse eben mit Allem rechnen.
    Der zweite Wecker klingelt. Das ist jetzt der kleine Klappwecker im Reiseetui auf der Vitrine in Hubers Zimmer. Homann mit seinen dicken Fingern tut sich immer schwer, die Weckzeit mit dem filigranen Rädchen auf der Rückseite des Gehäuses einzustellen. Er hat die Morgenschicht übernommen, Grulich ist mittags dran. Und ich schleiche mich, seitdem Huber im Krankenhaus liegt, jeden Abend in dessen Zimmer, ziehe die Wecker auf und stelle die Zeiten für die nächste Mahlzeit ein.
    Es ist ganz simpel, hat Homann gemeint, als wir am ersten Tag ohne Huber beim Mittagstisch saßen und keiner einen Bissen runter bekam. Wir sind alle dressiert. Dressiert durch diese Wecker.
    Ich habe genickt und hinzugefügt, dass wir jetzt quasi wie der Hund vom Pawlow seien. Und das richtige Wort dafür wäre aber konditioniert.
    Grulich sagte, er wäre ganz sicher kein Hund, aber er würde jetzt einen Wecker holen und klingeln lassen, damit wir endlich essen können.
    *
    Beim Abendessen sehe ich Saalfeld das erste Mal.
    Ich sitze mit Grulich und Homann an unserem Stammplatz, dicht neben dem bulligen Heizkörper. Die ausladenden Fenster, die zum Hof zeigen, sind undicht, die Flügeltüren des Speisesaals stehen offen, und ich spüre einen kühlen Luftzug an meinen Beinen.
    Homann beschmiert eine Scheibe Graubrot sorgfältig mit Butter. Es ist bereits die zweite Schicht. Er scheint es nicht zu bemerken. Sein Blick tanzt unruhig über die Tischreihen hinüber zum Eingang.
    Auch ich sehe immer wieder von meinem Teller auf, drehe den Kopf aber nur leicht, so als wolle ich prüfen, ob sich der Rollwagen mit den Teekannen bereits nähert. Homann durchschaut es. Ich sehe es in seinen Augen, aber er sagt nichts.
    Grulich kaut langsam und sorgfältig, trinkt Tee in kleinen Schlucken. Seine Hand zittert stärker als sonst und auf dem Tisch hat sich eine hellbraune Pfütze gebildet.
    Wie auf ein Kommando wird es stiller in dem Raum. An den Tischen wird weiterhin gesprochen, Gabeln kratzen über Porzellanteller, jemand rückt seinen Stuhl zurecht, doch all das wirkt jetzt, als habe jemand an einem Radio die Lautstärke abrupt herunter geregelt.
    Das Quietschen des abrollenden Gummiprofils auf dem Linoleum höre ich dafür besonders deutlich. Rhythmisch ertönt dazu ein leises Klacken. Der Ehering am Finger, der auf den metallenen Greifreifen schlägt, wenn die Hand das Rad des Rollstuhls weiterdreht. Es könnte Minna sein oder Franz, die beide so einen Selbstfahrer benutzen, weil ihre Armmuskulatur noch kräftig ist. Doch ich spüre, es ist Saalfeld, der in diesem Moment in den Speiseraum rollt.
    Grulich bemerkt es ebenfalls. Er steht sofort auf, hält seine Tasse noch in der Hand, als wolle er einen Toast ausbringen.
    Auch ich drücke mich von meinem Stuhl hoch, um
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher