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Aller Anfang ist Mord

Titel: Aller Anfang ist Mord
Autoren: Jutta Maria Herrmann
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Der Unberührbare
    Thomas Nommensen
     
    Er ist ein Thermometer, sein Finger ruht in ihrer Armbeuge, registriert jede Veränderung. Kurz war die Temperatur hochgeschnellt, ein Fieberstoß, ein Aufbäumen des Körpers gegen das, was kommen wird. Sinnlos und faszinierend zugleich. Er ist eine Kamera, sein Auge hat ihr Zittern gesehen, das Beben gefilmt. Die Ouvertüre war ein einzelnes, wirklich großes Zucken, ein Donnerschlag. Fast hätte er sie aus dem Fokus verloren, wichtige Details versäumt. Es ging so schnell, gerne hätte er sie länger dabei begleitet, aber nun ist es in seinem Kopf. Er kann es analysieren, vor- und zurückspulen, in Zeitlupe, wieder und wieder. Sie hat gezittert, nach dem großen Zucken. Überall gleichzeitig, er ist sich sicher. Es hat nicht am Herzen angefangen, auch nicht am Kopf. Es war einfach da, überall, nach dem großen Zucken, überall, der ganze Körper ein einziges Zittern. Er hat es gescannt, säuberlich beschriftet zu den anderen Szenen in seinem Gehirn eingeordnet.
    Und er ist wie eine Pumpe, hat den letzten Atemzug aus ihrer Lunge gesogen. Seine Lippen auf ihren Lippen, ein Hauch von Kaugummi hat er geschmeckt, kein Lippenstift, nein, sie ist viel zu jung. Diese intime Berührung war ihm unangenehm, aber es ging nicht anders, er musste diesen Hauch inhalieren, diesen Hauch, der alles in sich trägt. Und der Zeitpunkt musste stimmen.
    Jetzt liegt sie ganz ruhig, fast entspannt. Es ist vorbei. Er richtet sich auf, stellt sich vor den großen Spiegel, öffnet die obersten Knöpfe seines Hemdes, dabei fällt sein Blick zurück auf den leblosen Körper. Sie lacht ihn aus. Ihre Augen sind starr, fixieren irgendetwas an der Decke. Trotzdem spürt er ihren Blick, der auf dem Stück nackter Haut in seinem Hemdausschnitt brennt. Er hört ihr Kichern, gedämpft wie hinter vorgehaltener Hand, gleich wird es lauter werden. Dann werden auch die Anderen kommen, sie werden in ihr Kichern einstimmen und auf ihn zeigen. Sie werden bunte Badehosen tragen, Badeanzüge und Shorts. Ihre Haut wird gebräunt sein, ein heißer Sommer, sie werden Ball spielen und von der Rutsche ins Wasser gleiten. Er wird schwitzen, das langärmlige Hemd wird feucht sein, kleben und kratzen auf seiner wunden Haut. Er wird eine lange Hose tragen. Er wird im Schatten sitzen, die Anderen werden ihn sehen, sie werden es wissen und sie werden lachen.
    Er wartet einige Minuten, beruhigt sich, knöpft sein Hemd vollständig auf, legt es ab. Niemand ist gekommen, niemand lacht, er ist alleine mit ihr in dem Keller. Er streift die Schuhe ab, zieht die Socken aus, drapiert sie auf der Sitzfläche des alten Stuhls, öffnet den Gürtel, vorsichtig steigt er aus der Hose, legt Naht auf Naht, zieht die Bügelfalte nach, platziert die Hose über der Stuhllehne.
    Jetzt ist der Moment. Er hebt seinen Blick, schaut in die Augen, die ihn aus dem Spiegel ansehen. Hat sich etwas verändert? Wird er es selbst spüren oder kann er es nur in den Blicken der Anderen sehen? Er ist sich unsicher, sieht das, was er immer sieht: schuppige Haut, blutig gekratzt, Ekzeme, Narben. Sein Körper ist übersät von diesen Malen. Kopf und Hände sind frei, rein, sauber, vorzeigbar. Am Hals bereits fängt es an, aber er trägt Hemden mit hohem Kragen, die Ärmel reichen bis über die Handgelenke. Er ist dankbar, sein Beruf verlangt diese Kleidung.
    Das Mädchen ist jetzt in ihm, er kann sie spüren. Diesmal hat er es besser gemacht, die Richtige ausgesucht, den Moment abgepasst, nicht so lange gezögert, alles in sich aufgenommen. Jetzt wird er nach oben gehen und er wird ein kleines Mädchen sein.
    *
    Sie hört seine Schritte schon auf der Treppe. Schnell lässt sie den Haltegriff, der an einem Gestell über dem Bett baumelt los und sinkt schwer atmend zurück in die Kissen. Beruhige dich, sagt sie sich, beruhige dich, sonst merkt er es. Sie schließt die Augen.
    „Mutter!“ Er ist in ihr Schlafzimmer gekommen. „Mutter, schläfst Du?“
    Sie spürt, dass er an ihr Bett getreten ist, sich über sie beugt. Seine Hand wandert an ihrem Arm herunter, bis er ihre Hand findet, in seine nimmt und sanft drückt.
    „Mutter, wach auf. Ich bin es, deine Tochter. Ich habe Dir dein Abendbrot mitgebracht.“
    Sie will es hinauszögern, aber sie merkt, wie der Druck an ihrer Hand wächst, spürt seine Fingernägel, weiß, dass es gleich schmerzen wird. Sie öffnet die Augen. Er lässt ihre Hand los. Unter der Bettdecke wischt sie ihre Handfläche am Laken ab, sehr
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