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Aller Anfang ist Mord

Titel: Aller Anfang ist Mord
Autoren: Jutta Maria Herrmann
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besser sehen zu können. Ob Saalfeld uns bemerkt, weiß ich nicht. In der Mitte des Raumes hält er kurz an, scheint sich orientieren zu müssen, dann rollt er ruhig und mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken an einen der Tische am gegenüberliegenden Ende des Saales.
    „Er sitzt bei Hedwig. Die wohnte damals noch in Österreich“, sagt Grulich, während er sich wieder hinsetzt.
    Homann nickt.
    „Er sieht so harmlos aus. Schwach und krank“, murmelt Grulich und schaut dabei auf seine kantige Hand, mit der er auf der Tischplatte kurze Wischbewegungen ausführt. So fällt das Zittern weniger auf.
    Ich kenne das. Am Anfang habe ich auch versucht es zu kaschieren. Doch das Zittern kam bei mir in Schüben, deren Ausmaße ich vorher nicht kalkulieren konnte. In einem späteren Stadium habe ich versucht, die Handflächen unter die Oberschenkel zu schieben und mit meinem Gewicht zu beschweren. Daraufhin hat mein gesamter Oberkörper gezuckt. Seit ich hier bin, ist es mir egal, ich lasse den Dingen ihren Lauf.
    „Was hast du denn gedacht, wie er aussehen müsste? Auch in Afrika altert man schließlich. Aber darum geht es nicht, verstehst du? Sein Zustand ist keine Entschuldigung“, sage ich und suche Grulichs Blick. „Keine Schwäche jetzt“, füge ich hinzu, senke dabei die Stimme, denn der Teewagen wird an unseren Tisch gerollt. Die Bedienung spricht kein Deutsch und füllt wortlos die Gefäße.
    Homann hat seine Brotscheibe inzwischen in kleine Rechtecke zerteilt. Er schiebt sich eines der Wurstbrotpuzzlestücke in den Mund, kaut ruhig und gleichmäßig, nimmt sich sogar Zeit, die Unterkieferprothese mit der Zunge wieder in die richtige Position zu drücken.
    Ich werte es als gutes Zeichen.
    *
    Nach dem Abendessen setze ich mich an den kleinen Tisch in Hubers Zimmer. Im Kegel der Schreibtischlampe blättere ich noch einmal durch das Album, das das Leben von Huber enthält. Babyfotos, Huber mit stolzen Großeltern, Hochzeitsbilder, dazwischen ein besonders großes Bild, auf dem Huber mit seiner Frau in einem Standkorb sitzt. Er muss an diesem Tag sehr glücklich gewesen sein, das erkennt man immer noch, obwohl das Gesicht auf dem Foto unscharf und seltsam konturlos wirkt. Abgegriffen kommt mir in den Sinn. Huber wird in der Zeit nach dem Unglück immer wieder mit dem Finger über das Gesicht gestrichen haben, um zu begreifen, dass tatsächlich er das ist, der da breit und unbekümmert in die Kamera grinst.
    Huber hat das schwere Album eines Abends hervorgeholt. Er legte es vorsichtig auf meine Oberschenkel und schlug die erste Seite auf. „Das ist mein Urgroßvater“, sagte er und deutete auf ein gelbes Bild mit schwachen Linien und einem welligen Rand.
    Wir setzten uns schließlich hier an den Schreibtisch, wo ich jetzt auch sitze. Huber blätterte mir die dunkelgrauen Seiten vor. Das Pergaminpapier knisterte, und er hatte zu jedem Bild eine Geschichte parat. Manches kannte ich schon aus seinen Selbstgesprächen, trotzdem hörte ich interessiert zu.
    Vor dem Fenster blitzt es hell auf. Ich erschrecke, doch es sind nur Leuchtstoffröhren, die in einem der Mehrbettzimmer gegenüber in der Pflegstation angesprungen sind. Ich stehe auf und ziehe die Vorhänge zu.
    Der plötzliche Schmerz in meinem Kopf ist gleißend, und ich beiße mir auf die Unterlippe. Für einen Moment halte ich mich am Fensterbrett fest und zähle halblaut die verstreichende Zeit vor mich hin. Momentan dauern die Anfälle drei bis acht Sekunden und kommen nachts häufiger als am Tag.
    Diesmal sind es mindestens zehn Sekunden. Ich blicke noch einen Moment auf den dunklen Vorhangstoff, atme mehrfach tief ein und aus, dann drehe ich mich langsam mit halbgeschlossenen Lidern in die schwache Helligkeit des Zimmers.
    Vorsichtig schiebe ich mich zum Schreibtisch zurück, lasse mich auf den Stuhl davor sinken. Ein dumpfer Schmerz ist in meinem Kopf zurückgeblieben, mein rechtes Lid zittert, trotzdem ziehe ich das Album wieder zu mir heran und schlage das nächste Blatt auf. Es kommen keine Fotos mehr, zwischen den folgenden Seiten liegen lose Zeitungsartikel in unterschiedlichen Größen. Ein recht junger Saalfeld grinst mich von einem grob-gerasterten Bild an.
    Ich starre einen Moment auf das Gesicht, frage mich wie jedes Mal, warum sie ausgerechnet das Bild von seiner Kandidatur verwendet haben. Ich lese die Schlagzeile, die ich schon dutzende Male gelesen habe: Bürgermeister freigesprochen . Als ich merke, dass ich bereits den Text des Berichts lese,
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