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Aller Anfang ist Mord

Titel: Aller Anfang ist Mord
Autoren: Jutta Maria Herrmann
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blättere ich hastig zurück. Nein, sage ich mir, du schaust dir nur die Fotos an, Hubers Familie, die jetzt deine Familie ist. Du lässt dich durch nichts mehr ablenken.
    Vor meinen Augen flimmert es rot. Ich schließe kurz die Lider, dann ist es besser. Die Bilder vor mir zeigen ein Picknick an dem Ufer eines Sees, dessen Namen ich vergessen habe. Hubers Frau mit Sonnenhut und riesiger Sonnenbrille. Siebziger Jahre. Die Töchter mit Badeanzügen in grellen Farben. Ute und Petra, auf einem Bild schneiden sie Grimassen in die Kamera. Ute war vier, Petra fünf, das hat Huber erzählt. Der Sommer war glutheiß gewesen, er war an dem Tag nicht zur Arbeit gegangen, hatte stattdessen Frau und Kinder in den Wagen geladen und war raus ins Grüne gefahren. Es sollte auch eine Art Entschuldigung sein, denn am nächsten Tag würde er auf Dienstreise gehen, und Luise und die Mädchen müssten alleine das Sommerfest des Kindergartens besuchen.
    Vorsichtig streiche ich über dieses Blatt, spüre die Erhebungen der Fotos. Sechs Bilder, dazwischen welliges Papier. Die Feuchtigkeit hat die Fasern aufgeworfen, das Salz ist in die Poren eingedrungen, die Flecken auf dem dunklen Untergrund sehen aus wie diese Schneeränder, die sich nach einem Spaziergang im Winter auf dem Leder der Schuhe bilden. Unzählige Male muss Huber diese letzten Bilder angesehen haben, und jetzt sind es meine Tränen, die auf das Blatt fallen.
    Ich klappe das Album zu und lege mich auf Hubers Bett. Hinter meinen geschlossenen Lidern formt sich ein Bild und gleitet mit mir in einen Traum: Mathilde trägt jetzt den großen Strohhut von Luise. Die beiden Frauen liegen auf einer Decke. Luise hat ihre Sonnenbrille auf die Stirn geschoben und blickt besorgt in den Himmel. Ute und Petra springen im flachen Wasser des Sees und schaufeln mit den Händen Wasser über ihre Köpfe. Wände aus feinen Tropfen, die in der Sonne glitzern. Dazwischen erkenne ich plötzlich Lena. Ich möchte ihre Augen sehen, doch sie wendet mir den Rücken zu. Am wolkenlosen Himmel zucken Blitze. Mathilde ist aufgesprungen. Sie schreit aufgeregt, aber tonlos in einen altmodischen Telefonhörer. Das Wasser um Lena brennt in meterhohen Flammen.
    Homann ist es, der mich weckt. „Was machst du denn hier? Ich habe dich überall gesucht, dann ist mir der Lichtschein unter Hubers Tür aufgefallen.“
    Ich richte mich langsam vom Bett auf. „Mir ist nach dem Weckerstellen schwindelig geworden. Ich wollte mich kurz ausruhen“, sage ich.
    Homann nickt, aber er sieht mich skeptisch dabei an.
    „Wo ist Grulich?“, frage ich.
    Homann macht eine Bewegung mit dem Kopf zum Flur hin. „Saalfeld sitzt in seinem Zimmer noch vor dem Fernseher. In spätestens einer Stunde werden sie ihn ins Bett heben. Wir müssen uns beeilen.“
    *
    „Du merkst doch, dass er nicht sprechen kann.“ Grulich sieht mich verärgert an.
    „Scheiß drauf“, sage ich. „Er drückt sich, verstehst du. Schon wieder. Damals hat er sich ins Ausland verpisst. Jetzt kann er nicht sprechen. Er widert mich an.“ Ich merke, wie die Tropfen von meinen Lippen spritzen, während ich spreche.
    Grulich wischt sich mit dem Ärmel seiner Strickjacke über die Nase.
    Homann schüttelt den Kopf. „So geht das nicht. Da mache ich nicht mit.“
    „Doch“, sage ich. „Natürlich machst du mit. Erinnerst du dich nicht, wir haben es uns versprochen. Was hätten wir noch machen sollen? Es mit Blut besiegeln? Du kannst jetzt nicht ... nicht aussteigen.“
    Homann starrt mich an. „Aber du hast doch von Anfang an nicht richtig dazu gehört. Und jetzt fuchtelst du mit der Waffe rum, als wenn es damals um deine Frau und dein Kind gegangen wäre.“
    Wie Recht du hast, denke ich und sehe wieder auf den dunklen Stahl der Pistole in meiner Faust. Als Huber sie mir eines Abends in die Hand drückte, war ich zunächst geschockt gewesen. Nach dem Krieg hatte ich um jede Form von Waffen einen großen Bogen gemacht, auch dem Schützenverein war ich nie beigetreten, obwohl das in der Gegend eigentlich dazu gehört. Nein, das kam für mich nicht in Frage. In dem Zimmer vom Huber an jenem Abend und mit einigem Alkohol intus, spürte ich, wie die raue Griffschale in meiner Handfläche langsam warm wurde, sich wirklich gut anfühlte. Ich schwenkte die Pistole ein wenig herum. Huber lachte und verteilte den letzten Rest Rotwein auf unsere beiden Gläser. Das war ein Abkommen gewesen damals, ohne viele Worte. Seitdem habe ich dazu gehört, auch gegen den
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