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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt
Autoren: Andreas Altmann
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Vorwort
    Kürzlich las ich einen Artikel über Martin M. Der Neunzehnjährige war bislang nur als Faultier aufgefallen. Immerhin hatte er sich inzwischen die verbale Munition zurechtgelegt, um sein träges Dasein zu rechtfertigen: »Die Scheiß-Merkel, die Scheiß-Gesellschaft, alles scheiße.« Sogar vor der Hauptschule war er davongelaufen. Seitdem siechte er vor der Glotze, streichelte den Hund, versteckte seine faulen Zähne hinter einem gepressten Lächeln und lebte von Hartz IV. Bis er – unerreichbar für jedes Angebot – »auf Null gesetzt« wurde. Damit er nicht verhungerte, gab es Lebensmittelgutscheine. Die er nie abholte. Sicher zu viel Stress, sicher zu früh aufstehen. Lebte er doch bei Mutti. Als Muttersöhnchen. Er war der »no-future-no-bock-no-nothing-man«. Er brauche, sagte er noch, »jeden Tag eine Adrenalinspritze«. Aber die könne der Staat ihm nicht bieten. Wie wahr!
    Armer M. M., er hat wohl noch nie von der Welt gehört, nie und nimmer vom Reisen in die Welt. Existiert doch kaum etwas anderes im Universum, das mehr Kicks verschafft, als Abhauen und Abheben. Adrenalinbomben würden auf ihn niedergehen, ein Herzflimmern nach dem anderen ihn jagen.
    Besteht beim Starren auf einen Plasmaschirm die tägliche Gefahr, dass die Hirnrinde schmilzt, so wird ein Reisender jeden Tag reicher: weltreicher, geistreicher, geheimnisreicher. Er lebt ja, ranzt nicht als Kartoffelsack auf seiner Couch. Ob Martin je aufwacht? Oder schmiedet er weiter unbelehrbar sein Unglück?
    Soll keiner ihn in Schutz nehmen und behaupten, ohne Geld ginge nichts. Warum macht er es nicht wie andere 19-jährige Unersättliche, geht zur nächsten Kreuzung und streckt den Daumen raus? Und zwängt sich hinten rein, schnorrt, bettelt und lügt das Blaue vom Himmel herunter? Nur um vom Fleck zu kommen. Jede Art des Reisens ist ein Weg der Welterkenntnis. Ob im Fond eines Trabis (ich war dabei) oder als beinloser Invalide in einer Sänfte (in Kaschmir gesehen). Nur wach muss einer sein. Weltwach. Nur platzen vor Neugierde.
    Ich mag den Gedanken vom Reisen als Fluchtbewegung. Lieber verduften als zum Trainieren eines öden Berufs antreten. Lieber Streuner werden als Büroleiche. So ist mir Martin M. auf kuriose Weise sympathisch. Weil er sich weigert, als Massenartikel zu enden. Ich schelte ihn nur, um ihn von der Couch zu jagen: hinaus ins Leben.
    Lieber flüchten, um der Niedertracht des Alltags zu entkommen, dem Geheul der Wachstumsnarren und ihren penetranten Aufrufen zum Anhäufen von Klimbim. Nie habe ich einen dieser Marktschreier plärren hören: »Lasst euer Hirn anschwellen! Mehrt euren Mut! Werdet tapferer! Verschwendet mehr Liebe! Vögelt inniger! Steigert euren Empathie-Quotienten! Vervielfacht eure Sehnsucht nach den – André Gide hat darauf bestanden – émotions fortes , den starken Gefühlen! Ja, denkt mehr! Lest mehr! Spürt mehr!« Nie gehört. Nur ihren ultimativen Krimskrams wollen sie loswerden, dessen Erwerb die Glücksspanne von fünf Minuten nicht überschreitet.
    Wie cool kommt da ein Reisender daher. Sein Ziel ist die Welt und dafür braucht er nicht mehr als vierzehn, fünfzehn Kilo. Die er sich genau überlegt. Weil er sie jeden Tag auf dem Buckel tragen muss. Und so schleichen die einen davon, während die Müllmänner und Müllfrauen – all jene eben, die gern Müll shoppen – zurück in ihrem Viel-Tonnen-Haus bleiben, vor der Fünf-Tonnen-Garage, der Zwei-Tonnen-Blechkuh, ja, sie selbst – die unbeweglichen Stubenhocker – schon zur Tonne mutierten: Weil so viel Besitz keinen Auslauf mehr erlaubt, weil er bewacht, umzäunt, diebstahlversichert, wasserversichert, feuerversichert, sturmversichert, alarmknöpfe-vermint, ja abgestaubt, neu gestrichen, frisch geschmiert, vertieft, erweitert, vergrößert werden muss. Damit sie im Kuhdorf Quakenbrück (nur ein Beispiel) jeden Tag um die Wette protzen können: Wer hat am dümmsten seine Lebenszeit vertan? Wer stirbt als Erster an Raffsucht? Wer will der Reichste auf dem Friedhof sein? Wer hat noch immer nicht kapiert, dass hinter Quakenbrück die Welt anfängt?
    Früher, in anderen Jahrhunderten, galt als weise, wer der Welt den Rücken zukehrte. Um ihr, dem christlichen »Jammertal«, zu entkommen. Heute wissen wir, dass wir außer diesem Planeten nichts haben. Ans »Jenseits« glauben nur noch jene, die auch im Himmel gern als Schaf auftreten. Das Himmelreich des Reisenden ist das Diesseits: die magische Kugel, die so viele magische Blicke
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