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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis
Autoren: Gary Paulsen
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schüttelte den Kopf. »Ach, lieber nicht.«
    »Na, versuch’s doch mal.«
    Brian streckte die Hände aus und umklammerte das Steuer so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Mit den Füßen trat er auf die Pedale. Das Flugzeug kippte scharf nach rechts.
    »Nein, nein! Nicht so stark. Du musst die Maschine leichter steuern. Ganz leicht.«
    Brian lehnte sich zurück und entspannte seinen Griff. Vergessen waren die brennenden Tränen in seinen Augen. Er spürte nur noch das Vibrieren der Maschine im Steuer und in den Pedalen. Das Flugzeug reagierte beinahe wie ein lebendiges Wesen.
    »Siehst du?«, sagte der Pilot. Er ließ das Steuer los, reckte die Hände hoch und hob die Füße von den Pedalen. Tatsächlich flog Brian das Flugzeug jetzt ganz allein. »Ganz einfach, nicht wahr?«, sagte der Pilot. »Jetzt dreh das Steuer etwas nach rechts und tritt auf das rechte Pedal.«
    Brian drehte das Steuer und das Flugzeug kippte sofort zur Seite. Er drückte auf das rechte Pedal und schon glitt die Nase des Flugzeugs über den Horizont nach rechts. Als er den Fuß vom Pedal nahm und das Steuer zurückdrehte, richtete sich das Flugzeug wieder auf.
    »Jetzt kannst du schon Kurven fliegen. Also, steuere noch ein wenig nach links.«
    Brian drehte das Steuer nach links, drückte das linke Pedal und die Maschine folgte seinem Befehl. »Ganz einfach«, grinste er. »Wenigstens dieser Teil des Fliegens.«
    Der Pilot nickte anerkennend. »Ja, fliegen ist einfach«, sagte er. »Nur muss man es lernen. Wie alles andere im Leben. Wie alles andere.« Er legte die Hände ans Steuer und übernahm wieder die Führung des Flugzeugs. Dann fuhr er sich nachdenklich mit der Hand über die linke Schulter. »Druck und Schmerzen hier oben. Anscheinend werde ich alt.«
    Brian hatte das Steuer losgelassen und die Füße von den Pedalen genommen. Er sah den Piloten an. »Vielen Dank …«
    Der Pilot hatte schon wieder seinen Kopfhörer aufgesetzt und das Dankeschön ging im Dröhnen des Motors unter. Brian schaute wieder hinaus auf das endlose Meer von Wäldern und Seen. Und die Erinnerungen kehrten zurück. Nicht mehr mit Tränen und brennenden Augen. Aber mit Worten. Immer wieder mit Worten:
    Scheidung. Geheimnis. Streit. Trennung.
    Ja, die Trennung. Brians Vater wusste nicht, was Brian wusste. Er verstand nicht, warum Brians Mutter sich von ihm trennen wollte. So war die Trennung gekommen und dann die Scheidung und alles war so schnell gegangen. Das Gericht hatte bestimmt, dass er bei seiner Mutter leben sollte. Bis auf die Sommerferien. Das war die »Besuchsregelung«, wie der Richter in seiner kalten Juristensprache gesagt hatte. Oh, wie Brian diesen Richter hasste – genau wie die Rechtsanwälte!
    Dieser Richter, der sich von seinem Podest herunterbeugte und wissen wollte, ob Brian verstanden hatte, wo er jetzt leben sollte – und warum. Dieser Richter, der gar nicht wusste, was wirklich passiert war. Dieser Richter mit seinem mitfühlenden Blick, der gar nichts bedeutete. Wie auch die mitfühlenden Worte der Rechtsanwälte gar nichts bedeuteten.
    In den Sommerferien sollte Brian bei seinem Vater leben. Während des restlichen Schuljahrs bei seiner Mutter. Das hatte der Richter gesagt, nachdem er die Papiere auf seinem Tisch studiert und die Reden der Anwälte angehört hatte. Leere Wörter. Gerede.
    Das Flugzeug kippte plötzlich nach rechts und Brian sah den Piloten an. Er presste noch immer die Hand auf die Schulter – und auf einmal war schlechte Luft in der Führerkanzel des Flugzeugs. Brian wandte sich ab, um den Piloten nicht zu beschämen. Anscheinend hatte er Schwierigkeiten mit seiner Verdauung.
    In diesem Sommer also, die Scheidung lag erst einen Monat zurück, war Brian unterwegs nach Norden, um zum ersten Mal die »Besuchsregelung« bei seinem Vater auszuprobieren. Sein Vater war Ingenieur und arbeitete auf den Ölfeldern im nördlichen Kanada – jenseits der Baumgrenze, am Rande der arktischen Tundra. Er hatte ein neues Bohrgerät erfunden, einen selbstreinigenden und sich selbst schärfenden Bohrkopf zur Erschließung neuer Ölquellen. Und Brian sollte ihm irgendwelche eigens angefertigten Werkzeuge aus New York mitbringen, die jetzt fest verschnürt im Laderaum des Flugzeugs lagen, gleich neben dem Seesack aus Segeltuch, den der Pilot als »Überlebenspaket« bezeichnet hatte: ein Sack voller Vorräte und Ausrüstung für den Fall, dass sie irgendwo notlanden mussten. Mit diesem kleinen Buschflugzeug, das
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