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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst
Autoren: Louise Millar
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reißt den Umschlag auf und zieht eine Karte heraus. Vorn hat Hannah etwas gezeichnet. Ein Bild von sich und Rae. Rae hat riesige Augen, die fast ihr ganzes Gesicht ausfüllen; ihre Lockenhaare stehen rings um den Kopf ab, ihr Mund ist zu einem zahnlückigen Lächeln geöffnet. Hannah hat hellorange Haare und hält Rae an der Hand. Sie hat Rae sorgfältig auf eine Kiste gestellt, damit sie gleich groß sind. Das ganze Bild ist übersät mit Herzen, in denen » BF « geschrieben steht.
    »Das heißt beste Freundin«, sagt Rae atemlos.
    Ich streichle ihr übers Gesicht und freue mich für sie. Gemeinsam schlagen wir die Karte auf. »Für Rae.
We’ll Always Be Together.
Alles Liebe von Hannah«, steht drinnen.
    Rae kichert. »Dieses Lied singt Hannah oft. Es ist aus
Grease
. Sie sagt, das darf ich mal bei ihr zu Hause anschauen.«
    Ich sehe ihr lächelnd in die glänzenden Augen und lese den Songtitel noch einmal.
    »
We’ll Always Be Together
 – wir werden immer zusammen sein.«
    Und ich beuge mich über Rae, umarme sie liebevoll und hoffe für sie, dass es wirklich so sein wird.
    »Rae, hör mal. Ich muss Granddad anrufen und ihn fragen, wann er heute Nachmittag kommt. Ich bin gleich zurück.«
    Ich strecke den Kopf zur Tür hinaus und winke Tom, der sich auf dem Flur mit einem der Ärzte unterhält. Er nickt und kommt mich ablösen; als wir in der Tür aneinander vorbeigehen, legt er mir die Hände auf die Schultern.
    »Alles klar?«, fragt er und rubbelt mir über die Oberarme.
    »Mhm.« Ich lehne ein wenig den Kopf an ihn, als er mich massiert.
    »Wo willst du hin?«
    »Es dauert nicht lang. Ich habe etwas zu erledigen.«
    Wir drehen uns zur Rae, die sich im Bett aufgesetzt hat. Sie strahlt. Und beobachtet uns mit Adleraugen.
    Wir verdrehen die Augen und zwinkern uns zu, bevor ich mich entferne.
     
    Ich gehe in die Cafeteria hinunter. Wie anders alles bei Tageslicht aussieht. Die Sonne scheint durch das Glasatrium herein. Meilen entfernt kann ich das London Eye erkennen. Der Arzt sagt, dass es Rae gutgeht. Dass sie nicht allzu lange hier bleiben muss. Wir werden aus dieser Klinik bald in die Freiheit entlassen. Und diesmal endgültig. Für immer.
    Die Cafeteria ist heute ein anderer Ort. Schlangen von Menschen holen sich ihr Mittagessen, Besucher, Ärzte in gestreiften Hemden, das Stethoskop stolz um den Hals, erschöpftes OP -Personal noch im Kittel, Patienten mit Schläuchen, Gehhilfen, Verbänden. Am Samstagabend ist es mir nicht aufgefallen, aber die Cafeteria wurde seit dem letzten Mal renoviert, sieht freundlich, frisch und sauber aus. Gespräche schwirren in der Luft, man redet von Plänen, von Fortschritten in der Genesung, von Hoffnung, dass alles gut wird.
    Und dann sehe ich ihn. Am anderen Ende des Saals in der Ecke, den Kopf über eine Zeitung gebeugt, einen großen Plastikbecher Kaffee in der Hand. Immer noch in seinem verdammten Anzug. Aber diesmal hat sein Haar einen fettigen Glanz. Es fällt nach vorn, umrahmt ein Kinn, das den Anflug eines dunklen Schattens zeigt.
    Erst sieht er mich nicht. Ich mustere ihn und versinke in Gedanken. Wie Jez immer den Schmerz weggenommen hat.
    Und dann richte ich meine Aufmerksamkeit auf die harte Linie seines Kinns und gestehe mir schließlich ein, dass das gar nicht stimmt. Denn die Euphorie, in die Jez mich versetzt, hat Nachwirkungen. Jez dringt in meinen Organismus ein, bringt Blutgefäße zum Kollabieren, bremst meinen Atem, verlangsamt die Neuronen in meinem Gehirn, vergiftet mir das Herz und verstopft die Arterien, die mich am Leben erhalten.
    Nein, denke ich, richte den Blick auf seine Augen und gehe auf ihn zu. Wenn ich ehrlich zu mir bin, hat mir Jez, von Rae abgesehen, noch nichts Gutes getan.
     
    »Wie geht es ihr?«, frage ich und ziehe den Stuhl neben ihm hervor.
    Er fährt überrascht hoch. Sofort wirft er einen Blick hinter mich. Hält wahrscheinlich Ausschau nach Tom. Fragt sich, ob jetzt die große Szene kommt.
    »Sie werden sie behalten. Zur Beobachtung«, antwortet er dann.
    »Was – in der Notaufnahme?«
    Er macht eine Pause. »Nein. In der Psychiatrie.«
    Ich ziehe die Augenbrauen hoch, und er wendet den Blick ab.
    »Wie geht es Rae?«, erkundigt er sich.
    »Gut.«
    Er nickt. »Das freut mich.«
    Ich sitze schweigend da, sehe ihn lange an.
    »Also, was gibt’s, Jez? Warum hast du mich angerufen?«, frage ich schließlich.
    Er trommelt mit den Fingern auf den Tisch und bemüht sich um ein Lächeln.
    »Ich muss dich um einen Gefallen
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