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Alle Singen Im Chor

Alle Singen Im Chor

Titel: Alle Singen Im Chor
Autoren: Leena Lehtolainen
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völlig darin verschwanden. Das Meer war eine riesige graue Masse, die merkwürdig seufzte. Der Nebel verzerrte alle Geräusche, machte sie unkenntlich. Es war, als ginge ich durch ein fremdes Land, dessen Sprache ich nicht verstand. Ein knarrendes Quietschen näherte sich, das mich an einen Kinderwagen denken ließ – aber so hörte sich doch kein Kinderwagen an? Fünfzig Meter weiter sah ich, dass es doch einer war. Das seltsame Rascheln am Ufer wurde vielleicht von den Wellen verursacht, die im Ufersand ausliefen, vielleicht von etwas anderem. Vielleicht brauchte ich auch gar nicht zu wissen, was es war.
    Ich hatte ein Verbrechen aufgeklärt. Ich wusste, wer es begangen hatte, ich kannte das Motiv. Auch über das Leben einiger anderer Menschen hatte ich vieles erfahren. Und dennoch wusste ich nichts. Den Sinn vieler Dinge nicht zu erkennen – das musste ich noch lernen. Was mein Leben betraf, hatte ich einige Beschlüsse gefasst, aber wahrscheinlich waren auch sie nicht endgültig. In einigen Jahren würde ich vielleicht wieder einen neuen Kurs einschlagen.
    Ich ging zu der Stelle, wo der Bootssteg sein musste, fand ihn und ging ihn entlang. Schon bald war die Uferlinie nicht mehr zu sehen, und plötzlich gab es keine andere Wirklichkeit mehr als den Steg und den Nebel, meine feucht glänzenden Gummistiefel und die nassen Locken auf meiner Stirn. Es war seltsam beruhigend. Ich fühlte mich einsam und ganz.
    Wieder ein neues Geräusch im Nebel. Nach einer Weile gewann es Konturen, wurde zu Schritten. Riesige Gummistiefel, darüber eine lange, magere Gestalt. Unter der Kapuze des Regenmantels ragte eine Adlernase hervor. Antti.
    Ich hatte ihn seit Jukkas Beerdigung nicht mehr gesehen. Ein paar Tage nach Tuulias Verhaftung hatte ich nach der Mittagspause eine telefonisch hinterlassene Nachricht auf meinem Schreibtisch vorgefunden: «Ich war zelten. Tut mir Leid, dass ich für Aufregung gesorgt habe. Antti.» Danach hatte ich keinen Grund mehr gehabt, mich bei ihm zu melden.
    Als ich Jukkas Sachen zu den Peltonens gebracht hatte, hatte ich Anttis Brief nicht mit abgeliefert. Er lag immer noch in meiner Schreibtischschublade, und ich wusste nicht, was ich damit tun sollte. Vielleicht war es das Beste, ihn zu vernichten und zu vergessen, dass ich ihn je gelesen hatte.
    «Ach, Maria», sagte Antti, als er mich unter meinem Cape erkannte. «Ich wollte dich demnächst anrufen.»
    «Gibt es was zu besprechen?», fragte ich unfreundlicher, als ich eigentlich wollte. Ich war immer noch sauer auf ihn, weil er damals einfach verschwunden war.
    «Ich bin dir wohl eine Erklärung schuldig», meinte er bedächtig. «Gehen wir ein Stück, sonst wird uns kalt.»
    Wir gingen eine Weile wortlos nebeneinanderher. Die Stille wirkte beruhigend, und Antti unterbrach sie erst, als wir vom Ufer in Richtung Stadt abbogen.
    «Ich war nach Jukkas Beerdigung ziemlich durcheinander, wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Ich wollte eine Weile weg und in Ruhe nachdenken. Also hab ich meine Wanderausrüstung genommen, bin in den nächsten Bus eingestiegen und nach Nuuksio gefahren. Da hab ich dann ein paar Tage mitten im Wald gehockt und überlegt.»
    «Du hast es die ganze Zeit gewusst?» Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Antti sah verlegen aus.
    «Was heißt gewusst. Eher vermutet. Ich hab Jukka und Tuulia mein ganzes Leben gekannt. Natürlich hab ich an dem Wochenende gemerkt, dass nicht alles in Ordnung ist. Zum Teil hab ich von Jukkas Drogengeschäften gewusst, aber mir war nicht klar, dass er so tief drinsteckte, wie sein Vater sagt. Komisch.» Antti zuckte die Schultern unter seinem Regenmantel, von dem Wasser auf die Stiefel tropfte. «Meine erste Reaktion war, dass ich mich beleidigt fühlte. Ich war gekränkt, weil er mir nicht erzählt hatte, was für ein Leben er neuerdings führte.»
    Wir gingen quer durch den Park bis zur Albertinkatu. In der Stadt war der Nebel weniger dicht, ich konnte schon ein ziemliches Stück Straße sehen. In der Dämmerung wirkten die erleuchteten Fenster anheimelnd. Irgendwo wurde ein Fenster geöffnet, Musik drang heraus. Mick Jagger bat darum, die Nacht mit ihm zu verbringen.
    «Ich hab erraten, dass es Tuulia sein musste, obwohl ich nicht sicher war, warum sie es getan hat. Ich hätte dir natürlich von meinem Verdacht erzählen müssen, aber ich konnte es nicht. Mit Tuulia hab ich mich auch nicht getraut zu sprechen. Nicht, weil ich Angst um mich hatte. Ich hatte Angst, dass sie sich was
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