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Alle Singen Im Chor

Alle Singen Im Chor

Titel: Alle Singen Im Chor
Autoren: Leena Lehtolainen
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und körperlos. Als ich eintrat, sah sie nicht zu mir hin, sie starrte unverwandt ihre Hände an, die auf der Bettdecke lagen. Unwillkürlich überlegte ich, ob sie wohl an den Händen fror. Ich hätte sie gern angefasst, gewärmt. Ich traute mich nicht.
    Ich sprach sie an, versuchte ihren Blick auf mich zu ziehen.
    «Tuulia! Ich bin’s, Maria. Ich würd dich gern was fragen.»
    Tuulia blickte nicht von ihrer Decke auf. Ich probierte es fünf Minuten lang, blieb in meiner Polizistenrolle, obwohl ich mich gern in einen Menschen verwandelt hätte, in mich, in Maria. Nach fünf Minuten klopfte die Stationsschwester, ich ließ sie herein.
    «Sie spricht sicher nicht mit Ihnen», meinte die Schwester. Sie hielt mich natürlich für eine ganz normale Polizistin. Sie wusste nicht, dass ich die Frau war, die Tuulias Freundin hätte werden können.
    Am nächsten Tag telefonierte ich mit dem Psychiater, der Tuulia behandelte. Er ratterte Fachausdrücke herunter und erklärte, ihr Zustand werde sich nur normalisieren, wenn sie selbst es wollte. Zwischen den Zeilen hörte ich seine Skepsis heraus, ob das je der Fall sein würde. Wieso sollte Tuulia den Wunsch haben, gesund zu werden, nur um jahrelang im Gefängnis zu sitzen?
    Das Rauschgiftdezernat hatte in letzter Zeit einige wichtige Verhaftungen vorgenommen. Nach dem Bild, das sich dabei ergab, trafen die Gerüchte vom zunehmenden Einfluss der Ostmafia nur teilweise zu, immer noch waren die meisten einschlägigen Unternehmer Finnen. Jukka war ein kleiner Fisch gewesen, Tuulia noch unbedeutender. Mattinens Spuren hatten sich in London verloren. Sicher hatte er sich einen gefälschten Pass besorgt und war untergetaucht. Vielleicht hätte Jukka das auch geschafft, und wahrscheinlich wäre Tuulia nie geschnappt worden, wenn es Jukka gelungen wäre, sich ins Ausland abzusetzen. Vielleicht wären wir uns in irgendeiner Kneipe begegnet und würden jetzt gemeinsam durch den Nebel spazieren.
    Vor ein paar Wochen hatte ich zufällig Mirja getroffen, als ich das Präsidium verließ. Wir waren beide auf dem Heimweg, fuhren mit derselben Straßenbahn, und obwohl es uns beiden sichtlich unangenehm war, unterhielten wir uns, bis ich aussteigen musste.
    Von Mirja erfuhr ich, dass der Chor auf eine Anzeige gegen Jyri verzichten wollte, wenn er nur das Geld zurückzahlte. Sie selbst hatte sich entschlossen, nach Weihnachten für ein Jahr nach London zu gehen, um dort zu studieren und ihre Magisterarbeit zu schreiben. Sirkku und Timo hatten sich Anfang September verlobt, Piia war nach San Francisco geflogen, um Peter abzuholen. Das Leben ging weiter. Nur von Antti hatte Mirja kein Wort gesagt, und ich hatte nicht nach ihm gefragt.
    Obwohl ich bei Tuulias Verhaftung einen schweren Fehler gemacht hatte, wollte der Chef meinen Vertrag verlängern, aber ich hatte dankend abgelehnt. Zwei Wochen musste ich jetzt noch arbeiten. In letzter Zeit hatte ein außergewöhnlich dreister und brutaler Taxiräuber unsere ganze Abteilung auf Trab gehalten. Vergewaltigungen gab es praktisch jede Woche, und irgendwie schienen diese Fälle immer bei mir zu landen, selbst wenn ich gar nicht an der Reihe war. In meiner Freizeit hatte ich mich um meine Fitness gekümmert und wie wild für die Prüfung in Strafrecht gebüffelt. Ich hatte mir vorgenommen, in diesem Studienjahr fertig zu werden und mich im nächsten Herbst um eine Referendarstelle an irgendeinem Appellationsgericht zu bewerben. Weiter in die Zukunft wagte ich nicht zu denken.
    Vor einer Woche hatte der Prozess gegen Pasi Arhela stattgefunden. Als Rückfalltäter war er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Marianna hatte sich vor Gericht glänzend gehalten. Vor Freude und Stolz hätte ich beinahe geweint, als ich sie aussagen hörte. Marianna hatte an einer Gruppentherapie für vergewaltigte Frauen teilgenommen. So schlimm das Erlebnis gewesen war, sie würde es überwinden, das merkte man ihr an. Sie hatte mir gesagt, sie traue sich schon wieder, durch dunkle Straßen zu gehen.
    Der Regen verlockte mich, am Südufer entlangzuwandern. Ab und zu begegnete ich Menschen, die vor den heftigen Regenschauern davonliefen, manche zu zweit unter einem Regenschirm, lachend, die meisten aber verärgert, als hielten sie den Regen für eine persönliche Beleidigung. Ich fühlte mich isoliert unter der Kapuze meines zu großen Radler-Regencapes und in meinen Gummistiefeln.
    Auf der Höhe des Parks wurde der Ufernebel so dicht, dass die nahe gelegenen Inseln
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