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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman
Autoren: Sabine Zaplin
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unerwartet beendete Biografie in ihren organischen Dokumenten zu betrachten, wäre ihr schwerer gefallen. So glaubte sie.
    Der Professor zeigte ihnen, wie man den Ypsilonschnitt ansetzte. Einer der Studenten verließ mit schnellen Schritten den Saal. Alma klammerte sich an das im Kopf abgespeicherte Wissen. Ihr Blick verengte sich. Ihre Augen wurden zu Lupen. Sie sah jetzt nur noch Einzelheiten. Die Lunge. Das Herz. So funktionierte es. So hatte es damals funktioniert, als ihre Mutter starb. Nase. Kinn. Fünf Fingerchen an jeder Hand und zehn kleine Zehen. Das Gehirn des Fötus war zu klein. Zu schlecht versorgt. Das also war die Ursache. In einer anderen Mutter hätte es überlebt. Vielleicht.
    Im Kopf entwarf Alma ein Leben für das Kind. Mit anderer Mutter. Besserer Versorgung. Ließ es Handball spielen und Klavier, schenkte ihm Reisen, suchte eine ausgezeichnete Schule aus. Vielleicht wäre es später Dirigent geworden oder Fernsehmoderator. Man könnte, dachte sie über dem Abstreifen der Gummihandschuhe, einen bedeutenden Menschen schaffen. Wenn die Versorgung ausreichend war.
    Und während sie das Seziermesser reinigte, keimte in ihr der Gedanke, ein Kind zu bekommen.
Fee
    Düsenjägerlaut fällt das Rosentor zu. Aus. Abgestürzt in die Decke, die ist so heiß unterm Rücken. Augen auf. Wo ist sie?
    »Mama.«
    Das ist ihre Stimme. Sie liegt im Bett in ihrem Zimmer und es ist immer noch Nacht. Sie lauscht. So dunkel ist es, dass Papas Wecker nach ihr schreit, tick tick tick, und sie hochschreckt, aufspringt, hinaus aus dem Bett und in den Gang bis ins Schlafzimmer, tick tick tick. Ohrenbetäubend laut ist der Wecker, und es liegt niemand im großen Bett. Aber es ist doch Nacht!
    Sie geht näher heran. Mamas Decke ist so glatt wie am Morgen. Also ist sie doch nicht heimgekommen, dabei hat sie es versprochen. Wenn du schläfst, bin ich zurück, hat sie gesagt. Aber jetzt ist das Kind aufgewacht. Ist Mama darum nicht zurückgekommen?
    Vorsichtig kniet sich das kleine Mädchen auf die glatte Bettdecke. Papas Decke ist zurückgeschlagen. Er wird unten sein, etwas trinken. Sie will nachsehen. Schon im Gang merkt sie, dass unten alles dunkel ist. Aber er muss da sein.
    Ihr ist kalt, die nackten Füße sind eisig. Dabei war ihr eben noch so heiß auf ihrer Decke. Sie muss Papa fragen, ob der Sommer jetzt vorbei ist. So dunkel ist es unten. Am besten, sie nimmt Loki mit. Sie tapst in ihr Zimmer und angelt den Stoffaffen vom Bett. Loki unterm Arm, fasst sie mit der Hand das Treppengeländer und steigt hinab ins Dunkel.
    Unten ist alles verlassen. Langsam, immer langsamer streift das kleine Mädchen durch die Zimmer, von der Küche ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in die Diele. Sie ist allein. Nach endlosen Runden gibt sie in der Diele auf und sinkt dort auf die unterste Treppenstufe. Das alte Spiel fällt ihr ein, das Wahrsagespiel. Am Morgen klappt es immer: genau dreimal gähnen, dann kommt Mama und weckt sie. Im Auto funktioniert es auch: sechsmal Bruder Jakob, und die Ampel springt auf Grün. Meine kleine Glücksfee, sagt Papa immer.
    Sie überlegt. Was mag diesmal am besten sein? Die Uhr, wenn sie schlägt? Das kann ewig dauern. Wenn draußen ein Vogel ruft? Nachts rufen die Vögel nicht. Nachts sind nur noch die Katzen unterwegs. Die Katzen. Das ist es. Sie wird hinaus in den Garten gehen, und wenn sie die Nachbarskatze dort entdeckt, dann kommen Mama und Papa wieder.
    Fast getröstet springt das kleine Mädchen auf und läuft ins Wohnzimmer. Die Terrassentür aufgerissen und hinaus gesaust in den Garten. Feucht ist das Gras unter den Fußsohlen, aber es ist warm und riecht nach Sommer. Da vorne ist der Johannisbeerstrauch, voll mit Früchten, dahinter hängt am Kirschbaum ihre Schaukel. Sie bekommt Lust zu schaukeln. Aber sie tut es nicht. Sie hält die Augen offen und sucht nach der Katze. Unterm Rhododendron und im Johannisbeerstrauch. Miez, macht sie, komm her, Mieze. Zeig dich. Doch da ist niemand außer ihr. Sie legt den Kopf in den Nacken und schaut in die Sterne.
    Hinterm Zaun ist ein Geräusch. Ein Rascheln. Auf Zehenspitzen schleicht sie hin. Durch die Zaunlatten starren zwei grüne Sterne zu ihr auf. Miez, macht sie und freut sich. Jetzt muss die Katze nur noch zu ihr in den Garten kommen, dann sind Mama und Papa wieder da. Miez, lockt sie und hockt sich vor den Zaun. Die Katze starrt sie an. Dann macht sie einen Buckel, streckt die Vorderbeine durch und dreht sich um.
    »Nein!«, ruft das kleine Mädchen.
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