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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman
Autoren: Sabine Zaplin
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Assistenzarzt hat beim Nachtportier auf ihn gewartet, als er in der Klinik ankam. Schweigend begleitete er ihn zum Fahrstuhl und herauf in den zweiten Stock. Die Tür zum Zimmer des Chefarztes war geöffnet. Bis dort hinein hat ihn der Assistenzarzt begleitet. Der Chefarzt war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden, als sie das Zimmer betraten. Er hat ihm die Hand gegeben, ihm bedeutet, sich zu setzen, der Assistenzarzt hat sich gegen eine Liege gelehnt, die nahe der Tür stand.
    Urs wusste, bis auf den Wortlaut, genau, was nun folgte. Er hatte eine vergleichbare Situation noch nie erlebt und sie dennoch abgespeichert, irgendwo in einem verborgenen Winkel seines Hirns. Von diesem Winkel ging auch das Signal aus, das ihn einfrieren ließ. Das wiederum war ihm bekannt. Er spürte, wie sich über seiner Haut eine feste Eisschicht bildete, und natürlich wurde ihm kalt, aber das war ihm durchaus willkommen. Womöglich hätte er sich sonst übergeben müssen. Als die Ansprache des Chefarztes vorüber war, erhob dieser sich, und auch Urs stand auf. Er musste sich zwingen, nicht darauf zu lauschen, ob er das Eis bersten hörte. Natürlich hörte er es nicht. Aber galt das auch für den Chefarzt? Prüfend sah er ihn an. Warum er denn so kritisch schaue, er könne sich darauf verlassen, dass alles Menschenmögliche für seine Frau getan würde, und ob er bitte im Wartebereich Platz nehmen könne.
    Der Begriff vom Menschenmöglichen war Urs schon immer verdächtig erschienen. Er schloss das Unmögliche scheinbar aus, doch wer setzt dann die Grenze des Möglichen? Im Gang rechts neben ihm blinkt es schon wieder, diesmal über einer anderen Tür. Urs spürt, wie sein Augenlid wieder zu zucken beginnt. Noch niemals war er in einer Situation wie dieser. Immer hat ihn die Gewissheit begleitet, dass es Maßnahmen gibt, diese zu verhindern. Wie groß ist die Gefahr hinter den Türen, über denen die Lichter blinken? Und wird die Schwester immer rechtzeitig kommen? Und was ist mit Claudia geschehen, dass sie in diese Situation geraten konnte? Warum hat sie nicht aufgepasst? Dieses fortwährende Zucken wird ihn noch wahnsinnig machen.
Claudia
    Nicht noch einmal.
    Kaleidoskopenzwang. Die Fliege zerplatzt und zerbirst in einen tausendstrahligen Stern, der wächst und wächst, immer schneller, bis da nur noch dieses schmerzend grelle Licht ist. Dann Dunkel. Und wieder von vorn. Und das alles hinter den Lidern. Sie bekommt die Augen nicht auf. Warum bekommt sie die Augen nicht auf? Wieder zerbirst die Fliege. Wieder wächst der Stern, schmerzt das Licht. Ganz am Rand, da, wo es flirrt, bewegen sich zwei. Kommen näher, nebeneinander, durchqueren die Mitte, um ans andere Ende fortzugehen, wo sie kleiner und kleiner und immer kleiner werden. Ihre Beine. Sie muss ihnen beim Verschwinden zusehen. Dann Dunkel. Gnadenlos.
Allein durch die Stadt vor der Vorstellung
    Wie sie das genoss, durch die Stadt zu schlendern. Als wäre sie ausgebüchst. Sie war beinahe versucht zu hüpfen. Aber das ging nicht mehr, sie musste es wohl verlernt haben.
    Im Vorübergehen betrachtete sie ihr Spiegelbild in den Schaufensterscheiben. Und erschrak. Sah die Ehefrau, die Mutter einer sechsjährigen Tochter. Und zog die Jacke über den Hüften glatt. Das war alles viel zu praktisch, zu preiswert, zu brav. Kauf dir doch mal was Schönes, sagte die eine Stimme in ihr, doch die vernünftige Stimme fiel der anderen sofort ins Wort, das Konto ist schon lange überzogen und die Kleine braucht dringend Sandalen, lass gut sein.
    Unsicher forschte sie in den Gesichtern der Entgegenkommenden. Sah man sie? Manchmal fing sie ein Lächeln auf. Dann war sie überrascht und ein bisschen verwirrt.
    »Fährst du gleich wieder heim?«, hatte Constanze gefragt, die Lektorin des englischen Romans, den Claudia übersetzt hatte. Seite für Seite waren sie durchgegangen, weit in den Nachmittag hinein hatten sie in Constanzes Büro zusammengesessen, und Claudia hatte sich Notizen für die letzten, endgültigen Änderungen gemacht. Sie müsse noch ein paar Besorgungen machen, hatte sie auf Constanzes Frage geantwortet und sich dann verabschiedet.
    Das Gehen tat gut. Sie spürte ihre Fußsohlen in den leichten Sommerschuhen und genoss das Gefühl, dass ihre Zehen in der Lage waren, den ganzen Körper zu tragen, all die Last auf so einer kleinen Fläche. Schon fiel sie wieder in den wippenden Gang, der noch da war, übrig geblieben von früher, und auch das überraschte sie. Das war doch
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