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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman
Autoren: Sabine Zaplin
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»Nicht weggehen!«
    Behende klettert sie über den Zaun. Dabei verfängt sich ihr Nachthemd an einer der Spitzen. Es reißt ein, ein Stückchen Stoff bleibt am Zaun hängen. Das kleine Mädchen beachtet das nicht. Es rennt, rennt der Katze hinterher in die Nacht.
Urs
    Das Licht über der ersten Tür im Gang rechts blinkt. Er zählt mit. Fünf, sechs. Mit dem siebten Blinken hat die Schwester die Tür geöffnet und ist hineingegangen. Urs blickt auf seine Armbanduhr. 2 Uhr 2. Seit fast einer Dreiviertelstunde sitzt er auf diesem gar nicht so unbequemen Schalenstuhl aus hellgrauem Kunststoff und wartet. »Nehmen Sie bitte noch im Wartebereich Platz«, hat der Chefarzt gesagt, nachdem sie sich in dessen Sprechzimmer von den Stühlen erhoben hatten.
    Der Wartebereich ist eine mit Plexiglaswänden abgeschirmte Ecke zwischen den Fahrstühlen und der Treppe. Rechts und links zweigen breite Gänge ab. Im Gang links befindet sich die Schiebetür, hinter der Claudia gerade operiert wird.
    Um 0 Uhr 56 hat das Telefon geklingelt. Es kann auch 0 Uhr 55 gewesen sein, er ist wieder eingeschlafen nach seinem nächtlichen Ausflug in die Küche, aber das Telefon hört er gewöhnlich sofort, es kann also höchstens ein oder zweimal geläutet haben, bis er sich aufgesetzt und auf die Uhr gesehen hat. In weniger als 20 Sekunden war er unten am Telefon. Er hat sich mit seinem Nachnamen gemeldet, wie immer, und sich gewundert darüber, nach seinem Vornamen gefragt worden zu sein. Er hasst diesen Vornamen. Er passt so gut zu dir, sagt Claudia immer. Claudia hatte einen Unfall, er solle sofort in die Klinik kommen, dort würde er alles Weitere erfahren. Das war, in seinen Worten, der Inhalt des Telefonats.
    Im Gang rechts verlässt die Schwester das erste Zimmer. Das Licht über der Tür ist erloschen. Mit raschen Schritten durchquert die Schwester die Halle zwischen den beiden Gängen. Im Vorübergehen wirft sie einen Blick auf Urs. »Schön, dass Sie so ruhig sind«, sagt sie und nickt. Urs nickt nicht. Ich heiße Urs, hätte er sagen können, was tun denn die anderen Angehörigen in solchen Fällen? Schreien? Doch er sagt nichts. Er sieht zu, wie sie in den Gang links eilt, vorbei an der Schiebetür, hinter der Claudia noch immer operiert wird. Er sieht auf die Uhr. 2 Uhr 17.
    Die Kleine wird schlafen. Sie hat tief und gleichmäßig geatmet, als er nach dem Anruf hochgegangen ist und, ehe er sich anzog, nach dem Kind gesehen hat. Die Kleine hat schon immer einen tiefen Schlaf gehabt. Sie hat früh durchgeschlafen, und von ihm aus hätten sie noch mehr Kinder haben können, aber Claudia wollte nicht. Bevor er das Haus verließ, hat er noch einmal einen Blick ins Kinderzimmer geworfen und sich vergewissert, dass die Kleine noch immer schlief. Unten hat er in einem kurzen Brief die Nachbarin gebeten, gleich in der Frühe hinüberzugehen und das Kind zu versorgen. Das machten sie oft, sie selber versorgten die Katze, wenn die Nachbarin ihre Schwester besuchte, und im Gegenzug passte die alte Dame auf ihre Tochter auf, wenn sie beide mal später heimkamen. Gewöhnlich wachte die Kleine morgens um halb acht auf, und wahrscheinlich war er bis dahin längst zurück, aber so war es sicherer. Er hat den Ersatzschlüssel mit in den Umschlag gesteckt, die Haustür hinter sich zugezogen, ist hinüber zum angrenzenden Reihenhaus gegangen und hat den Brief den Nachbarn unter der Haustür durchgeschoben. Dann ist er in den uralten Benz seines Schwiegervaters gestiegen, den sie eigentlich längst schon abmelden wollten, und ist in die Klinik gefahren.
    Das Licht über der ersten Tür im Gang rechts blinkt schon wieder. Bei 15 hört Urs auf zu zählen. Kurz überlegt er, nach links in den Gang zu laufen und nach der Schwester zu suchen. Aber er will sich nicht einmischen. Er bleibt in seinem Wartebereich, auf dem Schalensitz, der durch eine schmale Platte aus demselben Kunststoff mit dem benachbarten Schalensitz verbunden ist. Dieser ist leer wie all die anderen Schalensitze auch. Auf den Platten liegen Zeitschriften, eingebunden in die Pappdeckel eines Lesezirkels. Urs lässt die Hefte unberührt. Über der Tür im Gang rechts blinkt es noch immer. Sein linkes Augenlid beginnt zu zucken. Endlich hört er Schritte von links, er wendet den Kopf, sieht die Schwester vorüberlaufen und fängt ein geschäftiges Lächeln von ihr ein. Sie verschwindet hinter der Tür, das Blinken darüber hört auf. Die Schiebetür im Gang links bewegt sich nicht.
    Ein
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