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African Queen

African Queen

Titel: African Queen
Autoren: Helge Timmerberg
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zulasse, dass der Autopilot meines Unterbewusstseins die Suche übernimmt, er scannt Fassaden, Fenster, Farben, Lichter, Stimmen und Gerüche und vergleicht all das mit meinem Weg durch diesen Basar vor dreißig Jahren, und vielleicht eine halbe Stunde später stehe ich in dem Innenhof der Moschee und fühle es mit Sicherheit: Genau hier saß ich vor langer Zeit, genau hier gurrten die Tauben, genau hier habe ich stundenlang auf meine staubigen Sandalen geschaut. Ich war stolz auf den Staub und stolz auf meine nackten Füße. Ich betrachtete sie, wie vernünftigere Leute als ich auf teure Autos schauen, denn der Staub der Gassen erzählte Geschichten. Genau hier, in dieser Moschee, in diesem Innenhof begriff ich vor drei Jahrzehnten, dass mehr als tausend Gassen und Geschichten weltweit vor mir liegen, genau hier fühlte ich mich zu meinem Beruf berufen, das heißt, genau hier brennt eines der Feuer, von denen ich sprach. Die Kraft, die dieser Ort hat, ergreift mich, sobald ich den Innenhof der Moschee betrete, wie mit einer großen, sanften, unsichtbaren Hand. Oder besser, sie ist wie ein Brunnen, in den ich mich fallen lassen kann, weil ich gern in ihm ertrinke. Wie kann das sein? Reicht eine Architektur, die mit ihren Raffinessen den Geist aus dem Alltag befreit, als Erklärung aus? Ich glaube, nein, das reicht nicht. Ich war in vielen Moscheen, auch in vielen Tempeln und Kathedralen, und in allen war ein bisschen davon zu spüren, auch manchmal mehr, wie in einem Shiva-Tempel in Varanasi, aber nirgendwo war es so stark wie hier. Wo ich gerade bei Shiva und Varanasi und Indien bin – die Hindus hätten eine Erklärung für das Phänomen, aber folgte ich ihr, müsste ich mein naturwissenschaftliches Weltbild ablegen und akzeptieren, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man nicht beweisen kann, außer mit dem eigenen Erleben. Der Hinduismus sieht es in etwa so:
    Nichts geht verloren. Jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke und jedes Gefühl bleibt auf ewig bestehen. Alles bleibt im Fluss, unsichtbar, unmessbar, unendlich, und es gibt zwei Flüsse dieser Art, in einem fließt all das Gute, das Menschen taten, sagten, dachten und fühlten, im anderen all das Böse. Und die Seele ist wie ein Haus mit zwei Türen: Öffnet man die falsche, und sei es auch nur einen Spalt, dringt der ewige Fluss des Bösen ein und macht ihr ’ne Menge Probleme. Öffnet man die andere Tür, fließt das zeitlos Gute in sie und überschwemmt sie mit Lösungen. Diese Flüsse fließen überall, aber anscheinend sind sie nicht überall gleich tief und gleich stark. Anscheinend gibt es Orte auf dieser Welt, an denen so massiv Gutes oder Böses getan wurde, dass die entsprechende Seelentür von selber aufgeht, und zwar sperrangelweit, und die andere wie vernagelt scheint.
    Ich schlief zum Beispiel vor Jahren einmal in einem sehr schönen Kolonialhotel sehr schlecht. Alles war bestens, die Architektur, die Einrichtung, das Licht, der Service, die Küche, alles entsprach meinem Geschmack, und trotzdem hatte ich die ganze Nacht schreckliche Albträume. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass dieses Hotel die Folterzentrale eines grausamen Diktators gewesen ist, und mich wunderte nichts mehr, obwohl seine Gewaltherrschaft schon sieben Jahre zurücklag. Kann man die Schreie der vor Schmerzen halb wahnsinnig gewordenen Menschen nach sieben Jahren noch hören? Oder nach siebzig? Oder siebenhundert? Falls ja, dann kann man auch die Gebete, Segnungen, Belehrungen, Erleuchtungen, kurz: die spirituelle Präsenz des Heiligen noch spüren, die vor fünfhundert Jahren das Herz der Kairoer Altstadt bestimmte.
    So alt ist die Moschee, in deren Innenhof ich jetzt stehe und den gurrenden Tauben zusehe. Hier wohnt ein mächtiger Engel. Ich habe ihn schon einmal besucht. Und wieder redet er mit mir. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen. Deshalb bin ich hergekommen. Mit alten und neuen Fragen. Die erste ist, ob man Erleuchtungen, oder soll ich «klare Momente» sagen, wiederholen kann. Nein, Erleuchtungen treffen den Sachverhalt besser. Hat also der Innenhof dieser Moschee heute für mich noch dieselbe erleuchtende Kraft wie vor dreißig Jahren? Und die Antwort ist: Na klar. Ich habe es schon gewusst, als ich ihn betrat, aber seit ich im Schatten sitze, an einer Mauer lehne und mal kurz die Augen geschlossen habe, weiß ich es mit Sicherheit. Ich glaubte wirklich, nur kurz die Augen geschlossen zu haben, doch als ich sie wieder öffne, ist fast eine Stunde
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