Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
ihr Bein, das sich plötzlich so weit vorn befand, daß sie vergaß, ihr anderes Bein rechtzeitig nachzuziehen. Jedenfalls grätschten sich ihre Beine plötzlich auseinander, und die Frau war nicht mehr in der Lage, sich einen ordentlichen Stand zu verschaffen. Ihr Schreck blieb einfach mit ihr stehen, sagte Baierl. Die alte Frau segelte halb vornübergebeugt wie Batman die Rolltreppe herunter, und ich dachte, sagte Baierl, ich werde ihr beim Empfang unten, also beim Verlassen der Rolltreppe, auf jeden Fall behilflich sein, und das habe ich dann auch getan. Und als sie unten war, griff ich ihr unter einen Arm und stützte sie ab. Sie verließ ohne Komplikationen die Rolltreppe, und sie dankte mir überschwenglich. Nun aber stand die andere Frau ja immer noch oben, und sie hatte gesehen, welche Schwierigkeiten es gegeben hatte. Sie traute sich nicht, die Rolltreppe zu betreten, sagte Baierl, und seltsamerweise kam sie auch nicht auf die Idee, die Fußtreppen zu benutzen. Statt dessen fuhr die andere Frau, die schon unten war, mit der daneben gelegenen Rolltreppe wieder nach oben, um ihrer Bekannten zu Hilfe zu kommen, sagte Baierl. Ich ging ihr nach und fuhr ebenfalls nach oben. Oben begann die Frau, die schon unten gewesen war, ihre sich sträubende Bekannte zu überreden, ebenfalls die Rolltreppe zu benutzen. Zu diesem Zeitpunkt stand ich etwa zwei Meter von den beiden Frauen entfernt. Da kamen zwei jüngere Mädchen, sagte Baierl, und sie merkten, daß die beiden Frauen Angst vor der Rolltreppe hatten. Die Mädchen erboten sich sofort, den Frauen behilflich zu sein, sie nahmen jede eine der Alten am Arm, wie ich es zuvor auch getan hatte. Nun aber, sagte Baierl, als ich sah, wie die beiden Mädchen auf die beiden Frauen einzudringen begannen, trat ich hinzu und beschimpfte sie. Niemand kann gezwungen werden, sagte ich zu den Mädchen, sagte Baierl, die Rolltreppen zu benutzen, wenn er das nicht wirklich will. Das heißt, sagte Baierl, ich stellte die Sache so dar, als wollten die Mädchen den Frauen Gewalt antun, als sei es inzwischen schon so weit, daß die Jungen die Alten jederzeit zu allem und jedem zwingen könnten. Ich wurde laut und habe nicht mehr aufgehört zu schimpfen, und die beiden Mädchen kamen überhaupt nicht dazu, mir zu erklären, daß sie den Frauen nur helfen wollten. Und diese, die ja gesehen hatten, daß auch ich es gut mit ihnen meinte, trauten sich nichts zu sagen. So ging es eine Weile hin und her, niemand verstand mehr, worum es ging, nur ich, ich wurde fast ohnmächtig vor Bösartigkeit, weil ich der einzige war, der wirklich wußte, daß nur ich die Sache so durcheinanderbrachte. Ich bin jetzt noch ganz zittrig, sagte Baierl. So etwas passiert mir höchstens einmal im Jahr, und ich werde nicht schlau daraus.
    Abschaffel und Baierl lachten kurz gemeinsam und verabschiedeten sich. Komm doch mal bei mir vorbei, rief Abschaffel im Weggehen, ja, du auch, rief Baierl zurück. Abschaffel beeilte sich, in das Café zu kommen, ohne weiter an Baierls Erlebnis zu denken. Das Café war groß und geschmacklos, und Abschaffel stellte gleich fest, daß der arabische Kellner nicht da war. War er ganz weg, oder hatte er nur heute frei? Es war sinnlos, darüber traurig zu werden, aber Abschaffel wurde es. Anstatt des Arabers war eine Bedienung da, eine Ausländerin, ganz dünn und lang, und Abschaffel begann, sie zu beobachten und sich ihre Bewegungen einzuprägen. Er strengte sich an, möglichst rasch zu Ergebnissen des Beobachtens zu kommen; es gefielen ihm sofort ihre müden kleinen Augen, die Mühe hatten, das ganze Café zu überschauen. Abschaffel tat sich, als er auf einem Stuhl Platz genommen hatte, nicht besonders hervor, um auf sich als Gast aufmerksam zu machen, weil er herausfinden wollte, ob die Bedienung ihn durch sein bloßes Kommen bemerkte hatte.
    Er wußte nicht, warum er sich so anstrengte, diese Nebensächlichkeit wahrzunehmen, und warum er es zuließ, daß er sich selbst mit solchen überflüssigen Einstellungen beengte. Denn er wußte nicht, daß das Alleinsein darin besteht, daß der Alleinstehende alles Geschehen um sich herum auf sich bezieht. Da nichts wirklich mit ihm zu tun hat, glaubt er, alles müßte mit ihm etwas zu tun haben; er ist ununterbrochen damit beschäftigt, Verbindungen zu toten Sachen herzustellen. Diese Verbindungen kommen zustande, aber es sind Einbildungen und Hirngespinste. Deshalb neigt der ständig Alleinlebende zu einem wahnhaften Leben. Wenn es zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher