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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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gesagt und vielleicht vor mehr als fünfzehn Jahren zum letzten Mal geschrieben, als er noch ein halbes Kind war, auf einer Postkarte von einem Klassenausflug. Er saß lange vor den Worten LIEBE ELTERN und meinte, er könnte nicht weiterschreiben. ICH HABE WIEDER EINMAL DIE ABSICHT, EUCH ZU BESUCHEN , schrieb er, und jetzt hatte er noch mehr den Eindruck, aus dem Brief werde eine einzige Halsstarrigkeit. Wie grauenhaft, wie erbärmlich, wie verlogen war der Satz, den er hingeschrieben hatte. Bei allen anderen Personen ist es immerhin weitgehend möglich, sie einmal nicht mehr zu belügen, nur bei den Eltern nicht. Bis zum Tode muß man seine Eltern anlügen. Abschaffel wußte das, aber er hatte es vorübergehend vergessen in der Empörung über die peinlichen Sätze, die er an seine Eltern schrieb. Daß jeder Mensch seine Eltern anlügen mußte, hielt er für unabänderlich. Es war an ihm, sich darüber nicht zu empören und dennoch einen verlogenen Brief zu schreiben. Er wollte ihnen ja nur schreiben, daß er sie bald besuchen kommen wollte. Mit jedem Wort, das er schrieb, meinte er, erwischt zu werden. Er schrieb das Datum des übernächsten Sonntags als sein Besuchsdatum in den Brief und beeilte sich, den Brief damit abzuschließen. Es war ein kurzer Brief, nicht mehr als eine halbe Seite Text, und der Anblick dieses kleinen Briefes bereitete ihm erneut Unbehagen. Er hatte seinen Eltern nicht mehr mitzuteilen als die Ankündigung seines Besuchs, aber er wollte nicht, daß seine Eltern dachten, er hätte ihnen nicht mehr mitzuteilen als die Ankündigung seines Besuchs. Um diesen Eindruck nicht entstehen zu lassen, hätte er einen ganz neuen Brief schreiben müssen, aber mit zunehmender Bewußtheit des Schmerzes, daß er ihnen nichts aus seinem Leben mitteilen konnte, gab er sich endgültig mit diesem kurzen Brief zufrieden.
    Er ging auf die Straße, den Brief in der Hand. Abschaffel wußte unweit seiner Wohnung einen Briefkasten, in den er schon immer einen Brief hatte hineinwerfen wollen. Unterwegs war er immer noch verbittert, weil er seinen Eltern keinen längeren und belangvolleren Brief hatte schreiben können. Die Scham war zu groß. Natürlich fühlte sich Abschaffel wie jeder Mensch, der geboren wird, betrogen von denen, die ihn geboren hatten. Es handelte sich um einen Betrug, der nie aufgeklärt, nach dem nicht einmal gefahndet wurde. Es liefen nur vereinzelte Opfer herum, die sich an niemand wenden konnten, weil jeder mit eigenen Ermittlungen beschäftigt war. Die Lust auf Rache war groß, und die Rache bestand darin, daß man nichts mehr voneinander erfuhr. Geburt, Rache und Scham: Das war der Grund, weshalb die Leute in Abschaffels Firma über ihn erheblich mehr wußten als seine Eltern. Die, die ihn schamlos geboren hatten, sollten verzweifeln über die Mitteilungslosigkeit, in die das Kind flüchtete.
    Abschaffel beobachtete eine Frau und einen Hund, die zusammen ein Auto besteigen wollten. Sie waren aus einem Hauseingang gekommen, und die Frau sprach, sich verabschiedend, an der Hauswand hoch zu einer Person, die im zweiten Stockwerk aus dem Fenster sah. Die Frau auf der Straße öffnete das Auto, und sofort sprang der Hund hinein und setzte sich auf den Fahrersitz hinter das Steuer. Darüber lachte die Frau; sie rief zu der Person am Fenster hinauf: ER WILL UNBEDINGT FAHREN! , und die Person am Fenster lachte zurück. Abschaffel ging an dem Auto vorbei und betrachtete durch das Fenster den Hund. Er war immer noch mit den Eltern beschäftigt, aber er beruhigte sich.
    Der Briefkasten, in den er seinen Brief hineinwerfen wollte, war nicht mehr da. Sofort schimpfte er gegen unerwartete Verluste und Veränderungen durch die Post. Er stand genau dort, wo vor kurzem, ja gestern noch, ein Briefkasten war. Er sah die Löcher an der Hauswand, die von der Verschraubung des Briefkastens zurückgeblieben waren. Unschlüssig ging Abschaffel weiter, den Brief in der Hand, und überlegte, was er nun tun solle. Seine Wäsche wollte er erst später aus der Wäscherei abholen, denn er hatte sich vorgestellt, daß er ein gutes Gefühl haben würde, wenn er erst den Brief eingeworfen hätte. Nun war der Briefkasten verschwunden, Abschaffel hielt seinen Brief in der Hand, und kein gutes Gefühl stellte sich ein. Er überquerte die Straße, und er war noch nicht richtig auf der anderen Seite angelangt, da entdeckte er an einer Stelle, an der bisher keiner gewesen war, einen Briefkasten. Abschaffel trat vor ihn hin und
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