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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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Wasser auf die Manschetten spritzte. Denn er kannte alle Situationen auswendig, und er wußte in jeder Situation, was er vermeiden mußte, damit die Langeweile nicht durch weitere Unbehaglichkeiten verschlimmert wurde.
    Eine starke Verschlimmerung der Langeweile war ohnehin jeden Tag auszuhalten, die Mittagspause. Sie dauerte eine Stunde, und es gab drei Möglichkeiten, sie auszufüllen. Einige Angestellte gingen gemeinsam spazieren. Das Bürohaus lag in einem Industriegelände, und wer hier spazierenging, mußte es zwischen Lastkraftwagen, Lagerhäusern und Drahtmaschenzäunen tun. Das wollte Abschaffel nicht. Die zweite Möglichkeit war, in der Kantine, die im Kellergeschoß eingerichtet war, etwas essen zu gehen. Die dort ausgegebenen Mittagessen waren nicht das Unerträglichste; es waren die Gespräche, die das Essen begleiteten. Abschaffel hatte diese Gespräche oft und oft angehört, und manchmal war seine Wut so groß geworden, daß er glaubte, er verwandle sich hier in einen hohen Turm, der dann von selbst umfällt. Die dritte Möglichkeit war, einfach am Schreibtisch sitzen zu bleiben, ein mitgebrachtes Brot zu essen und aus dem Fenster zu schauen. Die Angestellten machten von allen drei Möglichkeiten abwechselnd Gebrauch, und es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich dadurch lebendig vorzukommen. Abschaffel folgte ihnen darin, wenngleich er stets das Gefühl hatte, nicht eigentlich zu leben, sondern sein Leben immerzu zu überbrücken mit der zweit- und drittbesten Möglichkeit, weil die erste Wahl auch für ihn nicht zu haben war.
    Heute würde Abschaffel in die Kantine in den Keller gehen. Schon beim Verlassen des Büroraums um die Mittagszeit hatte sich ihm Frau Schönböck angeschlossen. Heute ist es aber kalt, sagte sie, und schon war sie für eine Stunde an seiner Seite. Frau Schönböck war etwas über dreißig, geschieden und redselig. Sie war wie Abschaffel schon einige Jahre bei der Firma beschäftigt, und es hatte sich eine Art Vertrauensverhältnis zwischen ihnen gebildet. Es bestand darin, daß sie ihm alles erzählte, was ihr Leben betraf, und Abschaffel sie beruhigte, wenn das, was sie erlebte, etwas zuviel für sie geworden war. An ihrer Art, sich ihm anzuschließen, erkannte Abschaffel jedesmal, daß ihm jetzt wieder etwas erzählt werden sollte. In der Kantine sorgte sie dafür, daß sie vor Abschaffel die Essenschale erhielt; dann setzte sie sich an einen kleinen Zweipersonentisch, und Abschaffel brauchte nur noch den von ihr freigehaltenen Platz einzunehmen.
    Herr Abschaffel, sagte sie, ich muß Ihnen etwas erzählen. Ich habe da vor einiger Zeit einen älteren Mann kennengelernt; er hat einen charmanten und sportlichen Eindruck auf mich gemacht, wir sind einige Male zusammen weggefahren, er war einmal Lehrer von Beruf gewesen und ist sehr gebildet, und das ist ja gleich etwas ganz anderes, wenn man mit einem gebildeten Menschen zusammen ist. Aber jetzt am Wochenende ist etwas Schreckliches passiert, sagte sie. Haben Sie mit ihm geschlafen? fragte Abschaffel. Ja, nein, sagte sie, ach Gott, es ist schrecklich. Wie alt ist der Mann, fragte Abschaffel. Neunundfünfzig, sagte Frau Schönböck; ja, fuhr sie fort, er wollte mit mir schlafen, ich habe es gar nicht gewollt, aber ich konnte ihn nicht zurückweisen, ich habe es nicht fertiggebracht, ihn so zu verletzen. Abschaffel lachte und sagte: Das ist gelogen, Frau Schönböck, das glaube ich Ihnen nicht. Denn Frau Schönböck war außer geschieden und redselig auch verlogen. Sie konnte banale Ereignisse aus ihrem Leben nicht erzählen, ohne sie durch ein paar Lügen nicht erträglicher gemacht zu haben. Und sie hatte es Abschaffel stillschweigend erlaubt, von ihm auf ihre Lügen aufmerksam gemacht zu werden. (Sie mußte immer lachen, wenn er sie wieder einmal beim Lügen erwischt hatte.) Abschaffel vermutete, daß es ihr sogar Spaß machte, wenn er ihre Lügen aufdeckte; denn die Aufdeckung blieb ohne Folgen, also auch ohne Strafe, und es konnte gut möglich sein, daß das Lügen selbst Spaß machte. Also gut, sagte sie, ich fand ihn nett, und warum sollte man dann nicht, das haben Sie selbst schon öfter gesagt, Herr Abschaffel. Aber es war schrecklich; ich hatte ja keine Ahnung, sagte Frau Schönböck, wie ein alter Mann aussieht. Seine Brust war ja noch in Ordnung, aber sein Hals war entsetzlich. Auch die Vorderseiten seiner Oberschenkel waren noch in Ordnung, aber die Hinterseiten. Die Knie waren nicht gut, sie hingen herunter.
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