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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Vorwort
    Z uerst merkt er nicht, dass er blutet. Er kommt zu sich, wie benommen, gefühllos, ohne Orientierung. Es dauert Minuten, bis er die klebrige dunkelrote Flüssigkeit registriert. Er kann sich jedoch nicht erklären, woher sie kommt. Sie rinnt langsam, aber unaufhörlich an seiner Nase entlang und bildet eine kleine Lache neben seiner Fingerspitze. Sie riecht nach rohem Fleisch.
    Seine Situation ist ihm unbegreiflich. Er scheint auf hartem grauem Stein zu liegen, sein Gesicht neben dem Metallgitter eines Gullydeckels. Seine linke Backe ist schmerzhaft gegen das Pflaster gepresst, und er kann ein Augenlid nicht öffnen. Das andere Auge ist verklebt und starrt wie durch einen Schleier auf einen schwarzen Kaugummi, der nur wenige Zentimeter neben seiner Nase plattgetreten auf dem Pflaster haftet.
    Er rollt seinen Augapfel verzweifelt hin und her, um sein Blickfeld zu vergrößern. Aus dem Augenwinkel sieht er seinen Nasenrücken. Ein Arm liegt ausgestreckt unter seinem Kopf, unnatürlich verrenkt, als gehöre er nicht zu ihm. Er wundert sich kurz, wessen Arm es wohl sein mochte. Dann wird ihm mit einem Schlag bewusst, dass es sein Arm sein muss, und ihm wird übel.
    Er kann sich nicht bewegen. Schmerzen hat er nicht. Nur jede Bewegung ist unmöglich. In seiner Mundhöhle kullert ein loser Gegenstand herum. Er tastet mit pelziger Zungenspitze darüber und stellt fest, dass es ein Zahn sein könnte.
    Eine unbekannte Stimme, männlich und kehlig, sagt etwas. Nach einigen Sekunden erst machen die Worte Sinn.
    »Alles in Ordnung, Kumpel. Bleib einfach ruhig liegen. Der Krankenwagen muss jede Minute da sein.«
    In diesem Moment wird ihm klar, dass tatsächlich er zu bluten scheint. Eine Woge heißer, panischer Angst strömt durch seinen Körper. Er beginnt, aus einem Auge zu weinen. Lautlos tropfen die Tränen aus dem Augenwinkel, rollen über seine Nasenspitze auf das Pflaster, wo sie das Blut zu einer wässrigen Lache verdünnen. Er versucht zu sprechen, bringt jedoch keinen Ton heraus. Fragen beginnen Gestalt anzunehmen, überstürzen sich und werden schließlich konkret.
    Was geschieht hier?
    Wo bin ich?
    Was mache ich da?
    Er hat das Gefühl zu fallen, jeden Moment vornüber in endlose Tiefen zu stürzen. Müdigkeit droht ihn zu überwältigen, sein Augenlid beginnt herunterzuklappen und begrenzt damit sein Sichtfeld noch weiter. In dem schmalen Sehschlitz, der ihm verbleibt, erfasst er die abgerundete Kappe eines Lederstiefels. Es ist ein Schnürstiefel aus abgewetztem Leder mit dicker Gummisohle. Er kommt näher und tritt in die rote Farbfläche, die sich plötzlich weiter auf dem Pflaster ausgebreitet zu haben scheint. Als sich der Stiefel wieder entfernt, hinterlässt er Abdrücke auf dem Pflaster, eine gestochen filigrane Spur aus feuchtem Blut.
    Er schnappt Fetzen eines Gesprächs auf, das sich über seinem Kopf abspielt.
    »Richtig. Hat ihn von seinem Rad katapultiert! Das arme Schwein.«
    »Sieht schlimm aus! Hatte er einen Helm auf?«
    »Kann ich mir nicht vorstellen. Der Fahrer hat nicht mal gehalten.«
    »Wo bleibt der Rettungswagen?«
    »Ist unterwegs.«
    Sein Augenlied klappt unweigerlich herunter, und er kann nichts dagegen tun, auch wenn er weiß, dass er wach bleiben, seine fünf Sinne zusammenhalten muss. Bald umfängt ihn wabernde Dunkelheit, die tintenschwarz gegen seine Schädelknochen brandet. Er hört die Sirenen und, kurz bevor er es sich gestattet, ins Nichts abzutauchen, hat er ein verblüffend klares Bild seiner Tochter vor sich. Sie ist zwölf Jahre alt, liegt mit Grippe im Bett, er hat ihr Toast mit Butter zubereitet, und sie ist so fiebrig und heiß, dass sie die Bettdecke zurückgeschlagen hat.
    Als Letztes, bevor ihm die Sinne schwinden, sieht er die vollkommene Rundung ihrer Kniescheibe unter ihrer blassen Haut und ist vollkommen durchdrungen von Liebe.
    Seltsam, aber als man ihr eröffnete, dass ihr Ehemann mit dem Tod ringe, galt ihre erste Sorge nicht ihm, sondern dem Rindfleischeintopf. Sie war mitten in der Vorbereitung des Abendessens gewesen, als es an der Tür klingelte, hatte Petersilienstängel abgezupft und im Schrank blind nach einer unauffindbaren Packung Lorbeerblätter gekramt. Sie ging in der Küchenschürze zur Tür, die Hände an der Sicherheitskette noch feucht. Ein undefinierbares grünes Blatt klebte an der Manschette ihrer geblümten Bluse. Sie war versucht, es fortzuschnippen, als ihr Blick auf die beiden uniformierten Polizisten auf dem Treppenabsatz
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