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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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Beispiel passierte, daß Abschaffel die Küche seiner Wohnung betrat, und im gleichen Augenblick begann das Aggregat des Kühlschranks zu summen, dann suchte Abschaffel, weil er glaubte, auch das Summen des Aggregats auf sich beziehen zu müssen, nach der Bedeutung dieses Geräuschs für sein Leben. So war er beschäftigt, sein wartendes Leben mit Bedeutungen und Verbindungen auszufüllen, die er untereinander verglich und vollständig ernst nahm. Die Bedienung kam erst, nachdem Abschaffel dann doch durch mehrfaches Aufblicken und Drehen des Kopfes verstärkt auf sich aufmerksam gemacht hatte. Er bestellte eine Tasse Kaffee und einen Blätterteig, und die Ausländerin nahm die Bestellung ohne jede Reaktion entgegen. Solche Lächerlichkeiten nahm Abschaffel in unerhörter Vergrößerung wahr. Er fühlte sich mißachtet und verlassen, und es war ihm nicht möglich, auch nicht für kurze Zeit, sich in die bedrängte Lage der Bedienung zu versetzen. Verdrossen ging er dazu über, andere Gäste im Café zu beobachten, und dabei hatte er den Wunsch, ganz und gar unansehnlich zu sein. Er wollte wie ein häßlicher Klumpen dasitzen und von niemandem eingeschätzt werden können. Als die Bedienung das Bestellte brachte, neigte er den Kopf tief nach unten, als sei er kurzsichtig und wolle sehen, ob der Kaffee auch stark genug sei. Den Blätterteig fraß er schnell auf, bewegte beim Kauen die Backen übertrieben und entfernte sich nicht die Krümel, die ihm am Mund hängengeblieben waren. Dann blickte er auf, und er hoffte, einen Blick zustande zu bringen, der jeden, der von ihm getroffen war, ins Unrecht setzte. In diesem Augenblick fiel einer Frau an einem der Nebentische ein Teller mit einem Kuchenstück vom Tisch auf den Boden, und Abschaffel war es, der am meisten erschrak. Erregt blickte er die Frau an, die schon umständliche Anstrengungen machte, die Scherben aufzulesen. Die Kellnerin trat aber schnell hinzu und sagte zu der Frau, sie solle sich setzen. Rasch fegte sie die Scherben zusammen, und Abschaffel wollte wieder eingreifen, als er sah, wie es ihr überhaupt nichts ausmachte, mit ein und demselben Handbesen sowohl die Scherben als auch die cremigen Kuchenstücke auf eine Schippe zusammenzukehren. Der Kuchen schmierte sich in das Besenhaar ein, und darüber erregte er sich schon wieder. Da begann er, ein Kind zu beobachten, das immerzu zur Brille seiner Mutter hochsprang. Die Mutter saß ruhig und lesend auf einem Stuhl, und immer wenn das Kind die Brille mit der Hand getroffen hatte, rückte die Mutter sie ohne weitere Reaktionen auf der Nase zurecht, und das Kind nahm einen neuen Anlauf. Abschaffel wurde durch diesen Vorgang schnell beunruhigt. Jedesmal fürchtete er, die Brille werde herunterfallen, und dann werde die Mutter endlich eingreifen. Abschaffel strengte sich an, nicht weiter hinzusehen. Er drehte den Kopf zur Seite, und gleich merkte er, daß er sich nun vorstellte, wie das Kind die Brille endgültig herunterschlug. Er sah jedoch nicht hin, und da fiel plötzlich, an einem ganz anderen Tisch, ein Feuerzeug auf den Boden. Abschaffel beschloß, das Café rasch zu verlassen. Fiel heute denn alles runter? Er achtete darauf, daß seine eigene Tasse und sein Teller sicher in der Mitte des Tisches standen, während er sich erhob. Er zahlte rasch und ging. Als er auf der Straße war, fiel ihm wieder ein, daß er sich vorgenommen hatte, an einem der nächsten Tage in ein Bordell und zu der ältesten Frau, die er finden konnte, zu gehen. Hatte ihn diese Idee noch vor einer Stunde zufrieden gemacht, weil plötzlich etwas dagewesen war, was er wirklich wollte, so erinnerte er sich jetzt in einer Weise daran, die nichts mehr auslöste. Es war so, als hätte er es schon hinter sich und als wüßte er schon, daß alles enttäuschend verlaufen war.
    Solchen Stimmungen überließ er sich und ging langsam nach Hause.
    In seiner Wohnung fühlte er sich wieder besser. Es war ihm gelungen, seinen Bordell-Einfall durch einen Zusatz wieder lebendig zu machen. Er nahm sich vor, an dem Tag, an dem er ins Bordell gehen wollte, zuvor seine alten Eltern zu besuchen. Sie wohnten in einer kleineren Stadt, zweihundert Kilometer entfernt. Zuerst wollte er das Altsein der Eltern so genau wie nur möglich auf sich wirken lassen, dann am frühen Abend zurückfahren, aus dem Bahnhof treten und sich auf der Stelle eine alte Frau suchen. Er stellte sich sogleich vor, wie er am Nachmittag am Tisch der Eltern im Wohnzimmer sitzen würde,
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