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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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Café, in dem ein arabischer Kellner bediente, der das Wort Blätterteig nicht aussprechen konnte, obwohl er ziemlich gut Deutsch sprach. Er überlegte kurz, ob er in dieses Café gehen, den Kellner beobachten, einen Blätterteig bestellen und sich dabei beruhigen sollte. Plötzlich bekam er Lust, alle Leute reglementieren zu wollen. Ein Mann war vor ihm durch ein Kaufhaus gegangen, und Abschaffel bemerkte, wie dieser Mann zweimal entgegenkommende Personen mit der Schulter angerempelt hatte. Dieser Mann war der Auslöser für seine Reglementierlust. Er hätte ihn am liebsten angehalten und ihm gesagt, daß er so, wie er es getan hatte, nicht durch ein Kaufhaus gehen könne. Dann gefiel ihm die Jacke eines anderen Mannes nicht. Die Jacke hing nach vorn herunter, und die Revers flatterten wie Lumpen. Abschaffel wollte ihm sagen, wo sich die Anzugabteilung befand. Seine Lust, sich über alles zu beschweren, erstreckte sich am Ende auf alle Personen, die zu klein, zu alt, zu schäbig waren. Endlich fiel er sich selbst auf, und er beruhigte sich augenblicklich. Er dachte mehrfach: Mein Gott, mein Gott, und es legte sich die Unruhe.
    Nun beschimpfte er sich selbst. Das konnte er genausowenig ertragen, schon gar nicht auf die Dauer. Er beschloß, durch ein Bordellviertel hindurchzugehen, er hoffte, es täte ihm gut, von den Mädchen auf der Straße angesprochen zu werden und durch Schweigen und Weitergehen etwas ablehnen zu können. So geschah es auch, und es gefiel ihm wirklich. Das Bordellviertel, das er meinte, lag noch im Bereich der Innenstadt, und gleich, als er in eine der zugehörigen Straßen einbog, hörte er rechts aus einem Hauseingang: Sssst. Er sah kurz hin, überlegte sogar, ob er zu einem der Mädchen gehen sollte, aber er kam sich zu lustlos und zu schmutzig vor. Er hatte ja auch nur angesprochen werden wollen. Er erinnerte sich an Frau Schönböck, und einen Augenblick später war er froh, weil ihm einfiel, was er eigentlich wollte: Er wollte mit einer alten Frau zusammensein, so wie Frau Schönböck mit einem alten Mann zusammen gewesen war. Das wollte er wirklich, und jetzt gefiel ihm alles wieder. In einer sofort hergestellten Versöhnlichkeit war er bereit, seine Arbeit in der Firma, die Angestellten und ihre Gespräche, die Mittagspausen und die Langeweile zum Leben gehörig zu betrachten. Abschaffel nahm sich vor, an einem der kommenden Tage in allen Bordellen zu suchen, bis er die älteste Frau gefunden hätte. Er war vergnügt und dankbar, weil er herausgefunden hatte, was er wollte. Er verließ das Bordellviertel. Er wollte doch noch das Café besuchen, in dem der arabische Kellner bediente.
    Er traf einen früheren Bekannten, den Angestellten Baierl, der einige Zeit mit Abschaffel in derselben Firma gearbeitet hatte und vor mehr als zwei Jahren in einen anderen Betrieb gewechselt war. Sie blieben beide stehen und waren eine Weile verdutzt über die Belanglosigkeit der Sätze, die sie sich zur Begrüßung sagten. Sie sagten sich nur, was sie schon voneinander wußten, daß Abschaffel immer noch in der alten Firma arbeitete und er, Baierl, nicht mehr. Die Scham über diese Dürftigkeit forderte eine rasche Verabschiedung, aber Baierl gelang es, in eine der Pausen, die die Verzweiflung läßt, damit sie besser zum Ausdruck kommen kann, einen anderslautenden Satz auszusprechen. Mir ist eben etwas Schreckliches passiert, sagte Baierl. Was denn, fragte Abschaffel.
    Ich war eben in dieser Fußgängerpassage da unten, sagte Baierl und deutete hinter sich in den breiten Schacht von hinunterführenden Treppen und Rolltreppen; ich stand unten und habe plötzlich angefangen, zwei alte Frauen zu beobachten, die am oberen Ende einer Rolltreppe beieinanderstanden und sich offenbar nicht recht einigen konnten, ob sie nun die Rolltreppen oder die Gehtreppen benutzen sollten, um herunterzukommen. Ihre Unentschlossenheit hat mich veranlaßt, stehenzubleiben und alles zu beobachten, was geschehen würde. Schließlich, sagte Baierl, hat sich eine der beiden Frauen hervorgetan und die Rolltreppe betreten. Sie hat aber sofort einen Fehler gemacht, und zwar hat sie nicht das getan, was alle tun, wenn sie eine Rolltreppe betreten, nämlich den Fuß einfach auf die erste Stufe zu stellen. Sie machte einen größeren Schritt und wollte gleich die zweite oder dritte der sich heranschiebenden Stufen mit dem Fuß erreichen. Dann machte sie, weil es gar nicht mehr anders ging, den zweiten Fehler. Sie war so überrascht über
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