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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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Kaffee trinkend und zuhörend, und wie seine Eltern alles in der Welt von ihm glaubten, aber nur nicht, daß er am Abend des gleichen Tages in ein Bordell ginge.
    Abschaffel legte sich auf die Bettcouch. Er wollte gerade anfangen, sich damit zu ängstigen, daß er eines Tages vielleicht keine Einfälle mehr zur Durchführung seines Lebens haben könne oder, noch schlimmer, daß es vielleicht überhaupt nur wenige Einfälle gebe, mit denen sich das Leben etwas interessanter machen ließ. Vielleicht mußte man sich einschränken und lange Zeit in Langeweile und Ereignislosigkeit hinbringen, und es war vielleicht nur töricht, sich über all das zu wundern. Aber seine Müdigkeit kam einer weiteren Ausspinnung dieser Vorstellung in die Quere. Er hatte sich in seinen Kleidern niedergelegt und zog nun eine Wolldecke über sich. Es gefiel ihm, in der Wärme seiner Kleider rasch einzuschlafen. Er mochte den Unterschied zwischen dem Einschlafen in den Kleidern am frühen Abend und dem ausdrücklichen Zubettgehen in der Nacht. Wenn er sich nachts auszog, die Kleider über einen Stuhl legte und ein Nachthemd anzog, war er sich schon manchmal vorgekommen wie in einer Anstalt. Wenn er dastand mit den nackten haarigen Beinen, die Knöpfe in die Knopflöcher an seinem Nachthemd schiebend, ganz allein in der Wohnung, dann hätte es ihn nicht überrascht, plötzlich eine Schwester die Tür öffnen zu sehen und sie sagen zu hören: So, jetzt gehen wir ins Bettchen und machen das Licht aus. Natürlich kam nie eine Schwester, und es öffnete sich nie die Tür, und Abschaffel war in keiner Anstalt, sondern im Zimmer seiner Wohnung. Sein Zimmer ähnelte in keiner Weise dem Zimmer einer Anstalt oder eines Krankenhauses, auch nicht entfernt.
    An einem der folgenden Tage saß Abschaffel am Tisch in der Küche seiner Wohnung und sah aus dem Fenster. Ein Arbeitskollege hatte ihn im Auto mitgenommen, und er war ungewohnt früh zu Hause. Gerade hatte er eine Tischschublade herausgezogen, und der Anblick eines Stückes Schnur, das in der Schublade lag, hatte ihn verärgert. Er hatte die Verärgerung nicht gleich bemerkt, sondern erst, nachdem er eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte. Wieder zog er die Schublade heraus, wieder sah er das Stück Schnur, und er wunderte sich, daß er einmal der Meinung gewesen sein mußte, ein solches Stück Schnur sollte aufbewahrt werden. Er zog das armlange Ende heraus und warf es in den Mülleimer. Er setzte sich an den Tisch zurück, wühlte in der herausgezogenen Schublade und fand ein Rabattmarkenheftchen. Er freute sich schon über das vollgeklebte Rabattmarkenheft, da sah er, daß es nicht ganz voll war. Es fehlten zwei Marken, und Abschaffel sah lange auf die beiden frei gebliebenen Rechtecke. Er holte sich, weil die Grundfarbe der Marken blau war, einen blauen Stift und begann, die fehlenden Marken einzuzeichnen. Mal sehen, dachte er, ob es die Frau an der Kasse im Supermarkt nachher merken wird, wenn ich ihr das Heftchen Marken überreiche. Tief vornübergebeugt saß Abschaffel über dem Rabattmarkenheft und zeichnete. Nach fünf langen Minuten ließ er den Stift über den Tisch rollen und gab es auf. Es war ihm, während er malte, vorgekommen, als hätte er kurz die Inneneinrichtung seiner Langeweile gesehen. Er legte das Heft zurück in die Schublade und fand dabei einige miteinander verzahnte Briefmarken. Er nahm sie heraus und zählte sie. Es waren neun Stück, jede einzelne ausreichend zur Frankierung eines Briefs. Er glaubte, einen Brief schreiben zu können. Abschaffel ging in das Zimmer und klebte auf neun weiße Briefumschläge je eine Briefmarke. Sollte er gleich neun Briefe schreiben? Die frankierten, unbeschriebenen Umschläge gefielen ihm. Mehrfach blätterte er sie durch wie Spielkarten, und er heftete sie mit Reißzwecken untereinander an die Wand. Es war ein schönes Bild, aber Abschaffel konnte wieder nicht zufrieden damit sein. Es ärgerte ihn, daß neun Briefumschläge nicht mehr waren als neun Briefumschläge. Es fiel ihm nicht einmal ein, an wen er wenigstens einen Brief schreiben könnte. Seit Jahren hatte er keinen Brief mehr geschrieben, höchstens Postkarten, aber eigentlich auch keine Postkarten. Es ärgerte ihn, daß ihm seine Eltern einfielen, an die er schreiben konnte. Immer die Eltern, etwas Besseres stellte sich in seinem Leben nicht ein. Er setzte sich hin und begann zu schreiben.
    LIEBE ELTERN , schrieb er, und es kam ihm sofort sonderbar vor. So etwas hatte er nie
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