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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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sah ihn an, und es begleiteten ihn keine guten Gefühle dabei. Er mißtraute dem Briefkasten, ja, er glaubte, es handelte sich um eine Art vergrößerten Jungenstreich, den die Post nicht bemerkt hatte und niemals bemerken würde. Er glaubte daher, daß dieser Briefkasten niemals geleert würde, und ängstlich verweigerte ihm Abschaffel seinen Brief.
    Er kehrte über die Straße zurück, und durch Zufall ging sein Blick an der Wand des Hauses hoch, an dem der Briefkasten früher angebracht gewesen war. Abschaffel erkannte mit Brettern vernagelte Fenster, ja, aus einigen Fenstern waren Löcher geworden, in die der Wind hineinpfiff. Der Vorgarten des Hauses war zerwühlt; zerschlagene Küchenmöbel lagen herum, einige durchnäßte Sessel, Geschirr, Hausrat. Jetzt wurde Abschaffel klar: Das Haus war zum Abriß vorgesehen. Kein Mensch wohnte mehr darin. Im gleichen Augenblick begann er die Post, die er gerade noch beschimpft hatte, für ihre Aufmerksamkeit und planerische Weitsicht zu loben. Wenig später faßte Abschaffel vollständiges Vertrauen zu dem Briefkasten auf der anderen Seite. Er ging zurück und warf dort seinen Brief ein. Ein gutes Gefühl kam über ihn, und wie immer, wenn er einsehen mußte, daß er sich geirrt hatte, kam er in eine fürsorgliche Stimmung und wollte sofort alten Menschen helfen. Er blickte sich um, wo jemand seine Hilfe brauchte, aber alles um ihn herum funktionierte reibungslos, und Abschaffel war erleichtert. So war es ihm möglich geworden, einen Irrtum einzusehen, ohne gleich dafür büßen zu müssen.
    Bevor die Geschäfte schlossen, hatte er noch etwas Zeit, und er lief planlos umher, bevor er in die Wäscherei ging. Er hatte wieder begonnen, mit sich selbst zu sprechen. Eigentlich war es kein richtiges Sprechen; es waren nur einzelne Sätze, manchmal nur Worte, die er im Gedächtnis wieder und wieder aufsagte, bis sie verschwunden waren und durch andere Sätze und Worte ersetzt wurden. Einmal war es nur der Ausruf ABER SELBSTVERSTÄNDLICH! , den er bis zu zehnmal, während er ging, vor sich hersagte, bis er plötzlich ABER SELBSTERKLÄRLICH! sagte. Das Wort SELBSTERKLÄRLICH gefiel ihm besser als SELBSTVERSTÄNDLICH , und er nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit, da er ABER SELBSTVERSTÄNDLICH zu einer anderen Person sagen könnte, statt dessen ABER SELBSTERKLÄRLICH zu sagen. Aber selbstverständlich vergaß er das alles wieder, und zwar restlos, es war verschwunden für immer, und er sagte andere Sätze und Worte auf. DU HÖRST MEINE SCHREIE JA SOWIESO NICHT , sagte er plötzlich zu sich selber. Er wußte nicht, woher dieser Satz kam und was er bedeuten sollte, vielleicht hatte er ihn selbst einmal gesprochen in einer wirklichen Situation, oder er hatte ihn sprechen wollen, oder hatte er den Satz von anderen gehört? Es war wieder einmal nicht zu klären. DU HÖRST MEINE SCHREIE JA SOWIESO NICHT , sagte er wieder mehrfach ganz leise, während er ging. Der Satz war ihm unangenehm, weil er nicht für ihn galt und nichts ausdrückte von dem, was ihn wirklich bekümmerte. Er sagte den Satz dennoch mindestens zehnmal auf und wurde fast närrisch dabei, weil er bei jedem neuen Vorsichhinsagen glaubte, diesmal sei es das letzte Mal gewesen, doch da hatte er den Satz bereits zur Hälfte noch einmal gesagt. Er wiederholte ihn öfter als andere Sätze, wandelte ihn ab und verkürzte ihn; später waren von dem Satz nur zwei Worte übriggeblieben, dann nur ein Wort, SCHREIEN . Das war eine Erleichterung, und Abschaffel hoffte, er würde auch dieses Wort verlieren wie bisher alle anderen Wörter, die in ihm aufgetaucht waren, wenn er mit sich selbst redete. Er drehte bei sich das Wort Schreien um, bis plötzlich das Wort KREISCHEN dazukam, jetzt hatte er mit den Worten SCHREIEN und KREISCHEN zu tun, und Abschaffel schämte sich, weil er sich so sonderbar vorkam. Er wünschte sich, von anderen erfahren zu können, ob auch sie gelegentlich von bestimmten Sätzen nicht loskämen.
    Abschaffel wollte weder schreien noch kreischen, und dennoch wurde er diese beiden Worte nicht los. Und plötzlich zog sein Hirn die beiden Worte zu einem Wort zusammen, aus KREISCHEN und SCHREIEN war das Wort KREISCHE geworden, und kurz danach kehrte der Satz von zuvor vollständig, jedoch verändert zurück, und Abschaffel sagte ihn wieder mehrfach hintereinander auf. DU HÖRST MEINE KREISCHE JA SOWIESO NICHT . Er wollte sich den Satz merken, vor allem das Wort KREISCHE , obwohl er wußte, daß er diese Sätze
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