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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni
Autoren: Brigitte Glaser
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»Toni, hör auf«, piepste sie hinter dem Betonpfahl. Mehr als ein Piepsen brachten ihre Stimmbänder nicht zustande. Toni hörte sie nicht. Keiner hörte sie, die drei waren im Blutrausch, traten dem Jungen auf die Hände und schubsten ihn schließlich grölend auf die Bahngleise.
    Von der Straße her drang das Heulen einer Polizeisirene an Jennys Ohren. Auch die drei Schläger horchten auf. Den Sirenen-Ton kannten sie genau, so ’ne Art inneres Alarmsystem, den Ton hörten sie immer. Jenny wusste, was sie jetzt tun würden. Abhauen, denn sonst hatten die Bullen sie am Haken. Der lange Dürre pflückte die teure Jacke vom Boden auf, dann sprangen die drei auf die Gleise, über den Körper des Jungen weg und kletterten auf der anderen Seite wieder hoch. Für einen Augenblick atmete Jenny auf, aber dann hörte sie die nahende Bahn. »Steh auf!«, brüllte sie in Richtung der Bahngleise, aber der Junge rührte sich nicht. Sie hastete auf die Gleise zu, sprang zu dem Jungen hinunter, zerrte ihn hoch, lehnte ihn an die Bahnsteigkante. Er atmete mühsam und bewegte sich wie in Zeitlupe, aber er lebte. Schon sah sie die Lichter der Bahn im Tunnel. Sie kletterte wieder nach oben und griff nach seinen Armen. Gott, war der schwer! Jetzt fuhr die Bahn in die Haltestelle ein. Jenny konnte das entsetzte Gesicht des Fahrers sehen. »Hilf mir!«, schrie sie den Jungen an. »Pack fester zu!« Jenny spürte die verzweifelte Kraft, mit der er ihre Unterarme umklammerte. Sie atmete tief durch und dann zog sie. Das Gewicht des Jungen riss ihr fast die Arme ab. Aber sie ließ nicht los und auch der Junge ließ nicht los. Wirklich in allerletzter Sekunde zog sie ihn auf den Bahnsteig. Die Schuhe des Jungen waren gerade mal ein paar Millimeter von den Waggons entfernt, als die Bahn quietschend zum Stehen kam.
    Eine halbe Stunde lief Jenny nun bereits. Frische Blasen drückten auf die Ballen, an den Fersen scheuerte die Naht der Ballerinas die Haut auf. Denk nicht mehr dran, beschwor sie sich und marschierte weiter. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Am Himmel zeigten sich sogar ein paar Sterne. Sie lief am Fluss entlang. Ob sie am Reichenspergerplatz noch eine Bahn erwischte? Halb zwei, zeigte ihr das Handy an, und das hieß nein. Die nächste, die kam, war die für die Frühschicht bei Ford, morgens um 4 Uhr 34, und ob die sonntags überhaupt fuhr, wusste sie nicht, also musste sie weiter zu Fuß gehen. Es waren noch mindestens fünf Kilometer bis zur Roten Burg.
    Was war ihr auch anderes übriggeblieben? Auf dem Bahnsteig war plötzlich so ein Gewusel gewesen: die Bullen, die die Rolltreppe herunterstürmten, der Fahrer, der leichenblass aus der Bahn stolperte, die Fahrgäste, die sich um den Jungen scharten. Bevor einer sie ansprechen konnte, nutzte Jenny das Durcheinander und schlüpfte in die Bahn. Vom letzten Wagen aus sprang sie zurück auf den Bahnsteig und verdrückte sich durch den Hinterausgang. Der Junge lebte, mehr interessierte sie nicht. Mit der Bullerei wollte sie nichts zu tun haben. Von wegen Zeugenaussage und so. Da hätte sie bestimmt ihre Adresse nennen müssen. Und den Blick, den die Bullen aufsetzten, wenn sie Burgmauerweg lasen, kannte Jenny zur Genüge. Am Burgmauerweg lag die Rote Burg, wer da wohnte, war assi-proll-brutal-gemeingefährlich-doof. Einem aus der Roten Burg schob man gerne was in die Schuhe. Nicht auszuschließen, dass sie am Ende ihr die Schuld an der Schlägerei gegeben hätten. Deshalb hatte sie sich dünne gemacht, deshalb musste sie jetzt den weiten Weg zu Fuß gehen.
    Als sie den Fluss überquerte, hing über dem Hafen ein halber Mond, der die Frachtkähne, die dort über Nacht vor Anker lagen, in sein milchiges Licht tauchte. Das friedliche Bild schenkte Jenny für ein paar Sekunden Ruhe, aber dann wurde sie auch schon weitergetrieben. Wiener Platz, hier schnell weitergehen, bevor irgendein Besoffener sie anmachte. Der Mond beschien den Weg am Bahndamm. Endlich sah sie die Siedlung vor sich, dunkel und trutzig wie eine Burg ragte der Häuserblock in den Nachthimmel. Vor dem Blauen Tor nahmen ein paar Tartaren einen alten Benz auseinander. Die Männer mochten es nicht, wenn man sie bei der Arbeit störte, deshalb schlich Jenny sich hinter den Mülltonnen auf der anderen Straßenseite an ihnen vorbei. Die Tartaren waren Meister im Zerlegen,
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