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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni
Autoren: Brigitte Glaser
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dann dachte sie, dass sie dem Jungen wirklich das Leben gerettet hatte. Als sie die Augen schloss, sah sie seine Augen vor sich. Braun, so hell wie das Fell eines Hamsters. Als sie die Finger einrollte, spürte sie die Finger des Jungen. Fest verhakt, zusammengeschweißt mit den ihren. Hand in Hand hatten sie noch einen Moment erschöpft auf dem Bahnsteig gelegen. Vergiss alles, wiederholte sie und wickelte sich in ihre Bettdecke.
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    Ich lebe! Das Adrenalin, das Lovis bei dieser Erkenntnis durch den Körper strömte, vertrieb alle Schmerzen. Er spürte die Schläge und Tritte nicht mehr, fühlte nicht das kalte Metall der Schienen, hörte nicht das Grollen der nahenden Bahn, sah nicht in das von Anstrengung verzerrte Gesicht des Mädchens, das ihn nach oben auf den Bahnsteig zog. Stattdessen tanzten Sternchen vor seinen Augen, schossen Endorphine durch seinen Körper, bollerte sein Herz im Takt des Glücks.
    Â»Ich lebe!«, wollte er den Leuten entgegenschreien, die auf dem Bahnsteig standen, aber er brachte keinen Ton heraus. Er lag auf dem Boden, konnte nicht aufstehen. Was war mit seinem Kopf? War wenigstens der in Ordnung? Lovis sah geblümte Gummistiefel, rote Turnschuhe und eine neugierige Hundeschnauze. In seinen Ohren brauste ein Gewirr aus fremden Stimmen. Er roch Feuchtigkeit, Männerschweiß und nasses Hundefell. Seine Sinne funktionierten. »Lovis Urban, fast siebzehn Jahre, Blumental 15, ich wohne bei meinem Vater.« Gut so, er wusste, wie er hieß und wo er wohnte, war bei klarem Verstand. Aber was war mit seinen Beinen? Was mit seiner Stimme?
    Â»Platz da, gehen Sie zur Seite!« Eine energische Stimme drang zu ihm durch, die Schuhe verschwanden aus seinem Sichtfeld, ein Gesicht beugte sich zu ihm hinunter. Er registrierte einen wachen Blick und die blaue Uniform eines Streifenpolizisten.
    Â»Was ist passiert?« Lovis starrte auf einen bleistiftdünnen Bartstreifen, der sich bei dem Mann wie bei diesem Fußballer Kurányi von Ohr zu Ohr zog. »Einen Krankenwagen«, rief der Kurányi-Bart nach hinten und wandte sich wieder Lovis zu. »Was ist passiert?«
    Lovis’ Lippen formten das Wort Überfall, konnten es aber nicht aussprechen.
    Â»Immer mit der Ruhe, mein Junge. Hast du ein Schülerticket? Einen Ausweis?«
    Lovis hob eine Hand und deutete auf seine hintere Hosentasche. Der Polizist nickte und zog den Schülerausweis vorsichtig heraus, warf einen kurzen Blick darauf. »Wer war das, Lovis?«
    Lovis streckte drei Finger in die Luft.
    Â»Drei? Sind die Täter noch hier?«
    Lovis zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht.
    Â»Waren es Jugendliche?«, fragte der Kurányi-Bart weiter.
    Lovis nickte.
    Â»Kanntest du sie?«
    Lovis schüttelte den Kopf. Was sollte diese Fragerei? Sicher hatten sich die drei ganz schnell aus dem Staub gemacht, als die Polizei auftauchte. Nur er lag immer noch auf dem kalten Bahnsteig. Wollten sie ihn hier ewig liegen lassen?
    Als hätte er diese Frage laut ausgesprochen, wurde jetzt eine Trage neben ihm aufgeklappt. Ein neues Gesicht beugte sich zu ihm hinunter, Hände tasteten Kopf, Körper, Arme und Beine ab, irgendwas wurde ihm in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt, das Licht einer Taschenlampe blendete seine Augen. Notarzt, dachte Lovis.
    Â»Kannst du mich hören, Lovis? Verstehst du, was ich sage?«
    Lovis nickte zweimal. Hände griffen nach Schultern und Beinen, hoben ihn hoch und legten ihn wieder ab. Er lag jetzt auf etwas Weichem, Warmen. »Wir bringen dich ins Krankenhaus.«
    Das Rattern der Räder dröhnte in seinen Ohren, der türkische Strand verschwamm vor seinen Augen, sein Bauch rumorte, als sie im Aufzug nach oben schwebten. Frische Luft stieg ihm in die Nase, eine Tür klapperte, die Trage wurde in den Krankenwagen geschoben. Der Notarzt setzte sich neben ihn. Kein Blaulicht. Ganz so schlimm stand es also nicht um ihn.
    Im Krankenhaus kehrte der Schmerz in seinen Körper zurück. Er wollte schreien, stattdessen wimmerte er wie ein zahnloses Baby. Wieder hob man ihn hoch, legte ihn auf eine andere Trage. Neue Hände befühlten seinen Kopf, arbeiteten sich langsam an seinem Körper hinunter. Höllenqualen beim Druck auf Rippen, eiskalt das Gel auf der Haut, eine Mördermaschine das Teil, das dann über seinen Bauch fuhr. »Ultraschall«, sagte eine Stimme. Seine Beine, die nach oben und unten, nach rechts und
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