Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni
Autoren: Brigitte Glaser
Vom Netzwerk:
links gebogen wurden, spürte er nicht. Querschnittslähmung, schoss ihm durch den Kopf. »Röntgen«, hörte er die Stimme sagen.
    Krankenhausflure und Aufzüge, dann Warten.
    Als die Gleise unter ihm plötzlich vibrierten und sein Körper ihm nicht gehorchte, hatte er gedacht, dass jetzt alles vorbei sei. Wie ein schwerer Sack hatte er auf den Gleisen gelegen, als hätte man ihm Arme und Beine abgehackt – ein Sack, den gleich die Bahn überfahren würde. Hatte er in diesem Augenblick wirklich daran gedacht, dass er sich keine Sorgen mehr wegen seines siebzehnten Geburtstags zu machen brauchte? Präsentierte einem das Gehirn im Angesicht des Todes etwas so Banales? Wo blieb die Show über die Highlights des Lebens? Wo war das weiße Licht, das ins Jenseits führte?
    Wieder schob man ihn, diesmal in den Röntgenraum und dann zurück über Flure und Aufzüge.
    Â»Kannst du mich hören?«, wurde er erneut gefragt, und diesmal blickte er in ein Frauengesicht, umrahmt von Engelshaar. Engel hatte er in seiner Todesangst auch keine gesehen. »Ich bin Dr. Morgenstern«, sagte die Frau, als er nickte. »Du hast verdammtes Glück gehabt, Lovis. Nichts gebrochen, sogar deine Rippen sind heil geblieben. Keine inneren Organe verletzt, nicht mal einen Zahn hast du verloren.«
    Die Beine waren also in Ordnung. Aber was war mit seiner Stimme los? Er brachte nur ein wütendes Krächzen heraus.
    Â»Ich weiß, dass dich das im Augenblick nicht trösten kann«, fuhr die Ärztin fort, »weil du furchtbare Schmerzen hast. Schwere Prellungen tun mehr weh als mancher Bruch. Eine Zeit lang wirst du verboten aussehen, aber alles wird heilen. Du brauchst nicht im Krankenhaus zu bleiben, du darfst nach Hause. Soll ich deine Eltern anrufen oder kannst du das schon selbst?«
    Lovis schüttelte den Kopf und die Ärztin zog ein Telefon aus der Jackentasche. »Kannst du mir die Nummer geben?«
    Anstelle von 01765 und so weiter kam ein Nnchhrrsseefff aus Lovis’ Mund.
    Â»Mach dir keine Sorgen, deine Stimme wird schnell wiederkommen, das ist der Schock.« Dr. Morgenstern runzelte kurz die Stirn, setzte dann aber diesen professionellen Alles-wird-gut-Blick auf und zog Papier und Kuli aus der Brusttasche. Mit angeschwollenen, blutverkrusteten Fingern schrieb Lovis krakelig wie ein Erstklässler Gustavs Handynummer auf. Verzweifelt sackte er auf die Liege zurück. Nichts würde gut. Er hatte seine Stimme verloren. Genau wie damals.
    Â»Dein Vater ist noch unterwegs. Er wird in einer Stunde hier sein.« Dr. Morgenstern steckte das Telefon zurück in die Tasche. »Die Polizei möchte dich sprechen. Fühlst du dich dazu in der Lage?«
    Lovis zuckte mit den Schultern, was für den Kurányi-Bart eine Aufforderung war, sich neben sein Bett zu setzen. Er stellte sich als Polizeiobermeister Sennefeld vor. »Um die Täter zu finden, sind wir auf deine Mithilfe angewiesen. Von den Zeugen, die wir auf dem Bahnsteig befragt haben, hat keiner drei Jugendliche gesehen. Kannst du sie genauer beschreiben?«
    Lovis bat um Papier und Stift und versuchte die drei mit wenigen Stichworten und verkrampften Strichen zu charakterisieren. Sennefeld besah sich das Bild, so wie man sich die Krakeleien von Kleinkindern anschaut, nickte und steckte es in die Jackentasche. »Kannst du dich an ein rothaariges Mädchen erinnern?«, fragte er dann.
    Natürlich konnte er. Er probierte es wieder mit einer Mischung aus Zeichnungen und Worten, dieses Bild studierte der Polizist genauer. »Das Mädchen war bereits da, als du auf den Bahnsteig gekommen bist. Ihr wart allein, bis die drei auftauchten. Dann ist das Mädchen verschwunden.«
    Lovis nickte. Diesmal hatte er sich auf Papier verständlich machen können.
    Â»Hatte das Mädchen etwas mit den Tätern zu schaffen?«, wollte Sennefeld wissen. »Haben die vier miteinander gesprochen? Blicke ausgetauscht?«
    Lovis schüttelte energisch den Kopf. »Sie hat mir das Leben gerettet«, schrieb er auf das Papier.
    Â»Das eine schließt das andere nicht aus«, meinte Sennefeld. »Immerhin ist sie genau in dem Augenblick verschwunden, als die drei aufgetaucht sind.«
    Â»Bestimmt hatte sie Angst«, schrieb Lovis auf. Und sie ist zurückgekommen und hat mir das Leben gerettet, fügte er in Gedanken hinzu.
    Â»Kann sein, kann aber auch nicht …«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher