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1974

1974

Titel: 1974
Autoren: David Peace
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1. K APITEL
    »Das einzige, was wir vorgesetzt kriegen, ist der beschissene Lord Lucan und irgendwelche bescheuerten Krähen ohne Flügel«, lächelte Gilman, so als sei dies der schönste Tag unseres Lebens:
    Freitag, 13. Dezember 1974.
    Ich hoffte auf meine erste Titelseite, wurde endlich namentlich genannt: Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland; zwei verdammte Tage zu spät.
    Ich schaute auf die Uhr meines Vaters.
    Neun Uhr, und keines von den Arschlöchern war im Bett gewesen; noch immer nach Ale stinkend, direkt aus dem Presseclub in diese Hölle:
    Konferenzraum, Millgarth Police Station, Leeds.
    Die ganze verdammte Meute wartete mit gezückten Stiften und aufnahmebereiten Tonbandgeräten auf die Hauptattraktion; heiße Scheinwerfer und Zigarettenqualm leuchteten den fensterlosen Raum aus wie einen Boxring in der Town Hall bei einer Late Night Fight Night, die Zeitungsschmierer ließen sich über die Fernsehheinis und Radiofritzen aus und stellten sich taub:
    »Einen Scheißdreck wissen die.«
    »Ein Pfund, wenn George mit dabei ist, ist sie tot.«
    Khalid Aziz im Hintergrund, von Jack keine Spur.
    Jemand stupste mich an. Gilman schon wieder, Gilman von der Manchester Evening News und von noch früher.
    »Tut mir leid, das mit deinem alten Herrn, Eddie.«
    »Ja, danke«, erwiderte ich und dachte nur, wie verdammt schnell sich doch so was rumspricht.
    »Wann ist die Beerdigung?«
    Ich schaute wieder auf die Uhr meines Vaters. »In zwei Stunden.«
    »O Scheiße. Aber Hadden will erst noch seine Portion Blut, oder?«
    »Ja«, sagte ich und wußte, Beerdigung hin oder her, unter gar keinen Umständen würde ich dem beschissenen Jack Whitehead die Story überlassen.
    »Tut mir echt leid.«
    »Ja«, sagte ich.
    Sekunden später:
    Eine Seitentür geht auf, alles wird still, alles erstarrt. Erst ein Kriminalbeamter mit dem Vater, dann Detective Chief Superintendent George Oldman, als letzte eine Polizistin mit der Mutter.
    Sie verschanzen sich hinter den plastiküberzogenen Tischen, schieben Papiere hin und her, berühren die Wassergläser und schauen überallhin, nur nicht nach vorn, und ich drücke an dem Philips Pocket Memo auf Start.
    In der blauen Ecke:
    Detective Chief Superintendent George Oldman, ein Gesicht von früher, ein Brocken von Mann unter Brocken von Männern, dichtes schwarzes Haar, nach hinten geklatscht, damit es nach weniger aussah, ein blasses Gesicht im grellen Licht der Scheinwerfer, tausend geplatzte Äderchen, die roten Fußtapser winziger Spinnen, die sich über seine bleichen Wangen bis zu seiner Säufernase zogen.
    Sein Gesicht, seine Leute, seine Zeit, dachte ich.
    Und in der roten Ecke:
    Die Eltern in verknitterten Klamotten und mit fettigen Haaren, der Vater, der sich die Schuppen vom Kragen klopft, die Mutter, die mit ihrem Ehering spielt; beide schrecken auf bei dem Knall und dem Jaulen eines Mikrofons, das eingeschaltet wird, und beide sehen in aller Augen eher wie die Täter, nicht wie Opfer aus.
    Habt ihr vielleicht eure Tochter auf dem Gewissen? dachte ich.
    Die Polizistin legt eine Hand auf den Arm der Mutter, die dreht sich um und starrt sie an, bis die Polizistin den Blick abwendet.
    Runde eins:
    Oldman tippt ans Mikro und hüstelt:
    »Meine Herren, vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Es war für alle eine lange Nacht, vor allem für Mr. und Mrs. Kemplay, und der Tag wird ebenfalls lang werden. Fassen wir uns also kurz.«
    Dann nippt er an einem Glas Wasser.
    »Gegen sechzehn Uhr am gestrigen Nachmittag, dem 12. Dezember, verschwand Clare Kemplay auf dem Heimweg von der Schule, der Morley Grange Junior and Infants. Clare verließ die Schule um Viertel vor vier mit zwei Klassenkameradinnen. An der Ecke Rooms Lane und Victoria Road verabschiedete sie sich von ihren Freundinnen. Das letzte Mal wurde sie gesehen, als sie gegen sechzehn Uhr die Victoria Road in Richtung ihres Zuhauses entlangging.«
    Der Vater sieht Oldman an.
    »Als Clare nicht zu Hause eintraf, veranlaßte die Polizei in Morley am frühen Abend eine Suchaktion, unterstützt von Freunden und Nachbarn der Kemplays, doch bisher gibt es noch keinerlei Hinweis auf den Verbleib von Clare. Clare ist bisher noch nie weggelaufen, und wir machen uns ernsthafte Sorgen um ihr Befinden und ihre Sicherheit.«
    Oldman greift erneut nach dem Glas, läßt es aber stehen.
    »Clare ist zehn Jahre alt. Sie ist hellhäutig, hat blaue Augen und lange, glatte Haare. Gestern abend trug Clare eine orangefarbene Regenjacke,
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