Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1173 - Computerwelten

Titel: 1173 - Computerwelten
Autoren: Unbekannt
Vom Netzwerk:
des Nebels verlor.
    Die Gestalt, die sich huschend durch die Düsternis bewegte, zeigte sich vom Fluidum des Schreckens unbeeindruckt. Es war ihr eigenes Werk. Kein Mensch hätte diese Umgebung psychisch ertragen. Ihr machte sie nichts aus. Es gab keine Menschen mehr.
    Vishna bahnte sich ihren Weg und hielt auf einen der gläsernen Türme zu, die zu Dutzenden überall in die Höhe strebten. In dieser gespenstischen Landschaft wirkten sie fast wie Fremdkörper. Es waren schlanke, knapp fünfzig Meter hohe Bauwerke, deren farbenprächtige Mauern in allen denkbaren Bereichen eines endlosen Spektrums erstrahlten.
    Zehn bis zwanzig Meter durchmessend, bestand das Innere jeweils aus einem einzigen hohen Raum, in dem sonderbare, ebenso farbenprächtige Kristallgebilde aus dem Boden und den Wänden wuchsen. Auch Qual Kreuzauges Zeitturm unterschied sich in seiner Gestaltung nicht von allen anderen. Als sie das Bauwerk betrat, blickte Vishna die spiralförmige schmale Galerie entlang, die bis unter die Decke reichte. Dann senkte sie den Blick und musterte den Ordensmann.
    In ihrer jetzigen Inkarnationsform erschien sie einem männlichen Betrachter stets als sein weibliches Idealbild. Vishna fragte sich amüsiert, als was Qual Kreuzauge sie wohl wahrnahm. Schließlich war er - wenn man eine Geschlechtszuweisung überhaupt vornehmen wollte - nur ein Virenkonglomerat: hochspezialisiert zwar und sich selbst bewußt, aber doch von Meta-Agenten künstlich erschaffen. Wie begriff ein solches Wesen seine Umwelt? Erkannte auch ein Ordensmann seine Herrin als begehrenswertes Geschöpf?
    Vishna wußte, daß dies philosophische Fragen waren. Sie brauchte sich nicht damit auseinander zu setzen.
    Qual Kreuzauge trug, wie alle seine Artgenossen, ein kuttenähnliches, grünschillerndes Staubgewand, geflochten aus Myriaden von Viren, die die Verbindung zum Imperium sicherten. Das Gesicht blieb von der Kapuze verhüllt. Vishna bezweifelte, daß die Ordensmänner überhaupt über ein Gesicht im anatomischen Sinn verfügten. In der ovalen Kapuzenöffnung blitzten kleine Funken wie in einer schwarzen Höhle.
    „Ich möchte den Gefangenen sehen", sagte die abtrünnige Kosmokratin. „Führe mich zu ihm." Diesmal bediente sie sich der akustischen Kommunikation.
    „Wenn du ihn sehen willst", betonte Qual Kreuzauge in seiner flüsternden Sprechweise, „so tust du gut daran, heute zu kommen. Schon morgen könnte es zu spät sein."
    Vishna machte eine herrische Bewegung.
    „Geh schon! Meine Zeit ist begrenzt."
    Der Ordensmann krächzte heiser. Bedächtig wandte er sich um und schlurfte langsam auf die Schachtöffnung zu. Vishna folgte ihm ungeduldig. Am Rand des Schachtes blieb sie stehen und blickte in die Tiefe. Selbst sie mußte gegen den Schauder ankämpfen, der aus der Düsternis dieses Abgrunds zu ihr herauf wehte.
    „Er befindet sich auf der Nullsohle", bemerkte Qual Kreuzauge. „So, wie du es befohlen hast."
    Die kristallene Schachtwand schimmerte schwarz. Vishna strengte ihre Sinne an, doch sie vermochte das Ende der Röhre nicht zu erkennen.
    Der Ordensmann schien ihre Gedanken zu erraten.
    „Der Schacht beginnt hier", erklärte er, „aber er hört nirgendwo auf. Man gewahrt die Nullsohle erst, wenn man sie erreicht hat."
    „Warum?" entfuhr es Vishna.
    „Weil das Ende vor dem Anfang liegt. Deshalb."
    Es klang lapidar und war doch schwer zu verstehen. Vishna wußte, daß der Schacht außer der räumlichen auch eine zeitliche Ausdehnung besaß. Er reichte nicht nur in die Tiefe, sondern auch in die Vergangenheit. Jede Zeitsohle entsprach einer früheren Epoche - bis hinab zum Urknall, der den Zyklus des jetzigen Universums in Gang gesetzt hatte. Die sogenannte Nullsohle schließlich, das Ende des Schachtes, befand sich sogar noch vor dem Moment des Urknalls und damit außerhalb der gewohnten Naturgesetze.
    Wer diesen Bereich betrat, konnte ihn nur mit Hilfe des Virenimperiums oder des Ordensmanns wieder verlassen.
    So einleuchtend sich dies in der Theorie anhörte, so unbegreiflich mußte es bleiben, wenn man es in der Praxis erlebte. Vishna kontrollierte das Virenimperium und war über seine Funktionsweise informiert - bestimmte Phänomene jedoch vermochte auch sie nur in ganz groben Zügen zu durchschauen. Die Schächte in den Zeittürmen gehörten dazu.
    Abschrecken ließ sie sich davon nicht. Ihr Widersacher war in dem perfektesten Kerker gefangen, den es in Zeit und Raum überhaupt geben konnte. Sie hatte keine Bedenken, zu ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher