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09 - Denn sie betrügt man nicht

09 - Denn sie betrügt man nicht

Titel: 09 - Denn sie betrügt man nicht
Autoren: Elizabeth George
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ihres kleinen, stämmigen Körpers bäumte sich auf und schrie: »Panik!«
    Während sie ihren Wagen durch den Verkehr steuerte und ein Rußteilchen wegzwinkerte, das auf einem glühenden Luftzug durch das offene Fenster hereingetragen worden war, fühlte sie sich wie eine Frau am Rand eines Abgrunds, der jäh ins Nichts abfiel und mit dem gefürchteten Wort »Freizeit« ausgeschildert war. Was sollte sie tun? Was sollte sie unternehmen? Wohin fahren? Wie die endlosen Stunden füllen? Mit der Lektüre von Liebesromanen? Mit der gründlichen Reinigung der lächerlichen drei Fenster, die ihr Häuschen hatte? Mit Übungsstunden im Backen, Bügeln und Nähen? Wahrscheinlich würde sie sowieso gleich einen Hitzekoller bekommen. Diese verdammte Hitze, diese elende Hitze, diese widerliche, ätzende, beschissene Hitze, diese - Reiß dich zusammen, Barbara, fuhr sie sich an. Du bist zum Urlaub verurteilt, nicht zu Einzelhaft.
    Am Ende der Sloane Street wartete sie geduldig, bis sie in die Knightsbridge Road abbiegen konnte. Sie hatte im Krankenhaus täglich die Fernsehnachrichten angesehen und wußte, daß das ungewöhnlich warme Wetter einen noch größeren Schwall ausländischer Touristen als sonst nach London gelockt hatte. Aber hier sah sie sie in Fleisch und Blut: Horden von Menschen, die sich mit Mineralwasserflaschen bewaffnet die Bürgersteige entlangschoben. Weitere Horden drängten aus dem U-Bahnhof Knightsbridge herauf und spritzten auseinander, um direkten Kurs auf die schicken Geschäfte der Gegend zu nehmen. Und fünf Minuten später, als Barbara es geschafft hatte, sich die Park Lane hinaufzuschlängeln, sah sie sie - Seite an Seite mit ihren eigenen Landsleuten - im Hyde Park, wo sie auf durstigem Rasen ihre lilienweißen Körper dem Sonnengott darboten. Unter der glühenden Sonne zuckelten Doppeldeckerbusse mit offenem Verdeck durch die Straßen, beladen mit Passagieren, die begierig den Ausführungen der Fremdenführer an den Mikrofonen lauschten. Große Reisebusse spieen vor jedem Hotel Deutsche, Koreaner, Japaner und Amerikaner aus.
    Und alle atmen wir die gleiche Luft, dachte sie. Die gleiche heiße, verpestete Luft. Vielleicht wäre ein Urlaub doch das richtige.
    Sie mied die ewig verstopfte Oxford Street und fuhr statt dessen durch die Edgware Road in nordwestlicher Richtung. Hier draußen lichtete sich die Masse der Touristen, wich den Immigrantenmassen: dunkelhäutige Frauen in sari, chador und hijab; dunkelhäutige Männer in Aufmachungen, die von Bluejeans bis zum Kaftan reichten. Während Barbara, in den Verkehrsstrom eingekeilt, im Schrittempo dahinkroch, beobachtete sie diese einstigen Fremden, die sicher und zielstrebig ihrer Wege gingen, und gedachte flüchtig der Veränderungen, die London im Lauf ihrer dreiunddreißig Lebensjahre durchgemacht hatte. Das Essen war eindeutig besser geworden. Doch als Polizeibeamtin wußte sie, daß diese multikulturelle Gesellschaft auch ein gerüttelt Maß an multikulturellen Problemen hervorbrachte.
    Sie machten einen Schlenker, um dem Gewimmel auszuweichen, das sich stets rund um Camden Lock staute, und zehn Minuten später zuckelte sie endlich Eton Villas hinauf und betete zum Gott für Verkehr und Transport, daß er ihr einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung bescheren möge.
    Der Gott bot einen Kompromiß an: ein Plätzchen um die Ecke, ungefähr fünfzig Meter entfernt. Mit Schuhlöffelmanövern quetschte Barbara ihren Mini in die Lücke, die eigentlich nur für ein Motorrad geeignet war. Sie stapfte den Weg, den sie gekommen war, zurück und stieß das Tor zu dem gelben edwardianischen Haus auf, hinter dem ihr kleiner Bungalow stand.
    Auf der langen Fahrt quer durch die Stadt hatte sich die rosige Champagnerlaune verflüchtigt, und übrig war nur das, was nach alkoholinduzierter Hochstimmung meist zurückbleibt: brennender Durst. Sie folgte dem Fußweg, der am Haus entlang in den hinteren Garten führte. An seinem Ende stand ihr Häuschen und sah im Schatten einer Robinie kühl und einladend aus.
    Aber wie üblich trog der Schein. Als Barbara die Tür aufsperrte und eintrat, schlug ihr brütende Hitze entgegen. Sie hatte die drei Fenster in der Hoffnung auf einen kühlenden Durchzug offengelassen, aber draußen regte sich kein Lüftchen, daher überfiel sie die schwüle Hitze wie eine grausame Heimsuchung.
    »Ach, Mist«, murmelte sie mürrisch. Sie warf ihre Umhängetasche auf den Tisch und ging zum Kühlschrank. Eine Literflasche Vitell überragte
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