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09 - Denn sie betrügt man nicht

09 - Denn sie betrügt man nicht

Titel: 09 - Denn sie betrügt man nicht
Autoren: Elizabeth George
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halbe Meile vor der Küste -, der in Richtung Clacton tuckerte. Ein Schwarm Möwen umspielte ihn wie eine Mückenwolke. Und Möwen flogen scharenweise oben an den Küstenfelsen entlang. Die Vögel hielten direkt auf ihn zu. Sie kamen von Norden, aus Harwich, dessen Kräne er selbst aus dieser Entfernung jenseits der Pennyhole-Bucht erkennen konnte.
    Das reinste Empfangskomitee, dachte Ian beim Anblick der Vögel, deren gesammeltes Interesse einzig auf ihn gerichtet zu sein schien. Ja, sie schossen mit solch blinder Entschlossenheit auf ihn los, daß ihm unwillkürlich du Mauriers Erzählung, Hitchcocks Film und die grusligen Vogelattacken auf Tippi Hedren in den Sinn kamen. Schon dachte er an hastigen Rückzug - oder wenigstens Maßnahmen zum Schutz seines Kopfes -, als die Vögel in geschlossener Formation einen Bogen schlugen und zu einem kleinen Bauwerk am Strand hinunterstießen. Es war ein Betonbau, ein ehemaliger Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Schutz britische Truppen auf der Lauer gelegen hatten, um ihr Land gegen eine Invasion der Nazis zu verteidigen. Der Bunker hatte früher einmal auf der Höhe des Nez gestanden, doch die Zeit und die See hatten den Küstenfelsen abgetragen, und nun stand er unten im Sand.
    Und auf dem Dach des Bunkers vollführte eine weitere Möwenmeute ihre schwimmfüßigen Steptänze, während durch eine sechseckige Öffnung im Dach, wo früher einmal vermutlich eine Maschinengewehrstellung gewesen war, unablässig Vögel ein und aus flogen. Sie kreischten und krächzten mit heiseren Stimmen wie in aufgeregtem Gespräch, und was sie berichteten, schien sich telepathisch zu den Vögeln draußen auf See fortzupflanzen, denn sie begannen, von dem Fischkutter auszuschwärmen und Kurs aufs Festland zu nehmen.
    Ihr zielgerichteter Flug erinnerte Ian an eine Szene, die er als Kind am Strand in der Nähe von Dover erlebt hatte. Ein großer, grimmig bellender Hund war von einem Schwarm ähnlicher Vögel ins Meer hinausgelockt worden. Für den Hund war es ein Spiel gewesen zu versuchen, sie vom Wasser aus zu schnappen, sie aber hatten aus dem Spiel tödlichen Ernst gemacht und ihn immer weiter hinausgelockt, bis das arme Tier gut fünfhundert Meter vom Strand entfernt gewesen war. Weder barsche Befehle noch flehentliche Beschwörungen hatten den Hund zurückholen können. Und niemand hatte die Vögel in Schach halten können. Hätte Ian nicht mit eigenen Augen gesehen, wie die Möwen mit dem rasch schwächer werdenden Hund ihr Spiel trieben - wie sie neckend über ihm kreisten, immer knapp außer Reichweite, kreischend zu ihm hinunterschossen, um gleich wieder in die Höhe zu steigen -, er hätte niemals geglaubt, Vögel könnten mörderische Absichten hegen. Aber an diesem Tag hatte er es erfahren, und seither glaubte er es. Und hielt immer sicheren Abstand zu ihnen.
    Jetzt fiel ihm dieser arme Hund wieder ein. Es war offensichtlich, daß die Möwen mit irgend etwas ihr höhnisches Spiel trieben, und was auch immer dieses bedauernswerte Etwas sein mochte, es befand sich im Inneren des alten Bunkers. Handeln war angesagt!
    Ian rannte die Treppe hinunter. »Hey, hey, weg da!« rief er und wedelte mit den Armen. Aber die Möwen, die auf dem mit Vogelmist verschmierten Betondach herumstolzierten und drohend mit den Flügeln schlugen, kümmerte das nicht. Dennoch dachte Ian nicht daran aufzugeben. Die Möwen damals in Dover hatten ihren hündischen Verfolger besiegt, die Möwen aus Balford jedoch würden Ian Armstrong auf keinen Fall besiegen.
    Er lief in ihre Richtung. Der Bunker war ungefähr fünfundzwanzig Meter vom Fuß der Treppe entfernt, und auf diese Distanz konnte er sich zu ansehnlicher Geschwindigkeit steigern. Mit fuchtelnden Armen und lautem Gebrüll stürzte er den Vögeln entgegen und vermerkte mit Befriedigung, daß seinen Einschüchterungsversuchen Erfolg beschieden war. Die Möwen stiegen in die Lüfte und ließen Ian mit dem Bunker und dem, was sie in seinem Inneren aufgestöbert hatten, zurück.
    Der Eingang war nur ein Loch von weniger als einem Meter Höhe, gerade richtig für einen schutzsuchenden kleinen Seehund, sich da durchzurobben. Und einen Seehund erwartete Ian auch zu finden, als er geduckt durch den kurzen Tunnel kroch und in die dämmrige Düsternis des Bunkers gelangte.
    Vorsichtig richtete er sich auf. Sein Kopf streifte die feuchte Decke. Ein durchdringender Geruch nach Tang und sterbenden Schalentieren schien vom Boden aufzusteigen und aus den
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