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09 - Denn sie betrügt man nicht

09 - Denn sie betrügt man nicht

Titel: 09 - Denn sie betrügt man nicht
Autoren: Elizabeth George
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war so früh am Morgen verlassen; es war niemand da, der ihm für das Privileg eines Spaziergangs über die Landzunge sechzig Pence abknöpfte. Ians Wagen rumpelte ungehindert über die Schlaglöcher zum Parkplatz über dem Meer.
    Und dort sah er den Nissan, ein Hecktürmodell, der einsam im Licht des frühen Morgens dastand, nur wenige Schritte von den Grenzpfählen entfernt, die den Parkplatz absteckten. Ian hielt auf den Wagen zu und bemühte sich dabei, den Schlaglöchern so gut wie möglich auszuweichen. In Gedanken war er schon bei seiner Wanderung und fand nichts Bemerkenswertes an der Anwesenheit des anderen Fahrzeugs, bis ihm auffiel, daß eine seiner Türen offenstand und Motorhaube und Dach naß waren vom nächtlichen Tau.
    Er runzelte die Stirn. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad des Morris und dachte über den unangenehmen Bezug zwischen einem verlassenen Auto mit offener Tür und einem steilen Küstenfelsen nach. Beinahe hätte er angesichts der Richtung, die seine Gedanken einschlugen, kehrtgemacht, um wieder nach Hause zu fahren. Aber die Neugier siegte. Er ließ den Morris langsam vorwärtsrollen, bis er auf gleicher Höhe mit dem Nissan war.
    »Hallo, guten Morgen. Brauchen Sie vielleicht Hilfe?« rief er aufgeräumt aus seinem offenen Fenster für den Fall, daß jemand auf dem Rücksitz ein Nickerchen machte. Dann sah er, daß die Klappe des Handschuhfachs herabhing und der Inhalt über den Wagenboden verstreut lag.
    Er kombinierte rasch: Da hatte jemand etwas gesucht. Er stieg aus dem Morris und beugte sich in den Nissan hinein, um sich genauer umzusehen.
    Die Suche war brutal gründlich gewesen. Die Polsterung der Vordersitze war aufgeschlitzt, und der Rücksitz war nicht nur aufgeschnitten, sondern auch nach vorn gezogen, als hätte man dahinter versteckte Schätze vermutet. Die Innenwände der Türen schienen abgerissen und dann notdürftig wieder festgemacht worden zu sein, die Konsole zwischen den Sitzen war offen, das Verdeckfutter hing lose herunter.
    Ian ging noch etwas weiter in seiner Schlußfolgerung: Drogen, dachte er. Die Hafenstädte Parkeston und Harwich waren nicht weit von hier. Lastzüge, Personenautos und riesige Container trafen dort jeden Tag auf Dutzenden von Fähren ein. Sie kamen aus Schweden, Holland und Deutschland, und der gerissene Schmuggler, dem es gelang, den Zoll zu überlisten, war sicher klug genug, sich an einen abgelegenen Ort zu verkrümeln - wie zum Beispiel den Nez -, ehe er seine Schmuggelware auslud. Dieser Wagen, sagte sich Ian, war stehengelassen worden, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte. Und er würde jetzt seine Wanderung machen und danach die Polizei anrufen, um das Fahrzeug abschleppen zu lassen.
    Er war so zufrieden wie ein Kind über seine scharfe Kombinationsgabe. Belustigt über seine erste Reaktion beim Anblick des Wagens, nahm er seine Gummistiefel aus dem Kofferraum, und während er seine Füße in sie hineinschob, lachte er leise vor sich hin bei dem Gedanken, daß sich irgendein verzweifelter Zeitgenosse ausgerechnet diese Stelle ausgesucht haben sollte, um seinem Elend ein Ende zu machen. Alle Welt wußte, daß die Kante der Küstenfelsen hier auf dem Nez äußerst brüchig war. Ein Selbstmordkandidat, der vorhatte, sich an dieser Stelle ins ewige Vergessen zu stürzen, würde eher in einer durch das eigene Gewicht losgetretenen Lawine aus Lehm, Kies und Schlick zum Strand hinunterrutschen. Er würde sich vielleicht ein Bein brechen, aber seinem Leben ein Ende machen? Wohl kaum. Auf dem Nez starb man nicht.
    Ian knallte den Kofferraumdeckel zu. Er sperrte den Wagen ab und gab ihm einen Klaps aufs Dach. »Treuer alter Kasten«, sagte er anerkennend. »Dank dir vielmals.« Die Tatsache, daß der Motor jeden Morgen brav ansprang, war ein Wunder, aber abergläubisch, wie Ian war, fand er, das müsse man unterstützen.
    Er hob fünf Papiere irgendwelcher Art auf, die neben dem Nissan auf dem Boden lagen, und steckte sie in das Handschuhfach, aus dem sie zweifellos gekommen waren. Ordnung ist das halbe Leben, dachte er und schlug die Wagentür gewissenhaft zu.
    Dann ging er zu der alten Betontreppe, die zum Strand hinunterführte.
    Auf der obersten Stufe blieb er stehen. Selbst um diese Zeit schon war der Himmel strahlend blau, ungetrübt vom kleinsten Wölkchen, und die Nordsee lag in heiterer sommerlicher Ruhe. Weit draußen am Horizont hing wie eine Watterolle eine Nebelbank, ferne Kulisse für einen Fischkutter - vielleicht eine
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