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0885 - Die Kralle des Jaguars

0885 - Die Kralle des Jaguars

Titel: 0885 - Die Kralle des Jaguars
Autoren: Simon Borner
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genommen durchaus heftigen Schmerzen glücklicherweise im Moment relativierte. Es dauerte einige Momente, bis sich Nicole an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Nach und nach erhielt ihre Umgebung Konturen, wurde das Nichts zu Objekten. Sie drehten sich zwar, waberten, verschwanden immer wieder aus dem Fokus. Doch sie waren da, und mit ihnen kam die Erinnerung.
    Morgana! Die Zeremonie! Das Kind…
    Ein Schrei entsprang Nicoles Kehle, blieb aber irgendwo stecken. Da war etwas… in ihrem Mund? Erst jetzt spürte sie, dass ihr Mund geöffnet war und sie ihn nicht schließen, ja nicht einmal bewegen konnte. Ein Gegenstand steckte in ihrer Mundhöhle, drückte unangenehm in den Rachen und presste ihre Zunge nach hinten. Er war weich und feucht, faserig - ein Schwamm? Ein schmales Tuch aus schmutzigem Leinen fixierte ihn und führte in mehreren, straff gezogenen Bahnen um ihren gesamten Kopf.
    Nicole wollte sich aufrichten, den Knebel entfernen, doch hielt sie etwas zurück, verweigerten ihr die Arme und Beine den Dienst. Sie schüttelte den Kopf, zog durch die Nase Luft ein - und allmählich begriff sie ihre Situation. Sie war gefesselt, und das in extrem unbequemer Position. Wie ein großes X lag sie da, die Hand- und Fußgelenke mit groben, stabilen Stricken fixiert, die an schweren Holzpflöcken befestigt waren. Jemand hatte sie in den Boden gerammt und nun umrahmte sie eine kalte, von mehreren Fackeln erhellte Steinplatte, auf der die Französin rücklings lag und sich kaum noch rühren konnte. Panisch drehte sie den Kopf so gut es ging, versuchte ihre Umgebung wahrzunehmen und zu verstehen, was mit ihr geschehen war.
    Sie befand sich in einer Art Kammer, deren aus schweren Steinquadern gemauerte Wände fremde Symbole zierten. Maya-Symbole, so eckig und stilisiert wie sie waren. Es mussten Hieroglyphen sein, denn einige von ihnen erkannte Nicole wieder: die Fledermaus. Und das Zeichen für Blut. War sie etwa in Copán? Wie kam sie hierher?
    Panik stieg in ihr auf. Dieses Zimmer kam ihr bekannt vor - der Thronsaal aus McArdbegs Bericht. Hier war doch dieser Deutsche geopfert worden, Haberland. Hier hatte Madame Golden Rose die Geister der Mayas beschworen, dem Buluk Chaptan ein Opfer gebracht. Ein Menschenopfer…
    Erst jetzt bemerkte Nicole, dass sie nackt war. Ein grobes Tuch war um ihre Hüften geschwungen und verhüllte das Nötigste, und eine breite Halskette mit großen, metallenen Anhängern bedeckte ihren Oberkörper. Sie war wehrlos. Sie war da, wo - wer auch immer hinter dieser Sache steckte - sie haben wollte!
    Und sie war von oben bis unten himmelblau angemalt. Ihr ganzer Körper war von einer Farbschicht bedeckt, die nach Erde stank, nach zerriebenen Kräutern und Dreck. Mit einem Mal musste Nicole an Elian Rodrigo denken und daran, was er ihr über die Opferriten der alten Mayas erzählt hatte. Dass einige Stämme ihre Menschenopfer mit blauer Farbe gekennzeichnet hatten.
    Nicoles Lider flatterten. Sie stöhnte frustriert auf, warf sich hin und her und zerrte mit aller Kraft, mit all ihrer Verzweiflung an den Stricken, die sie hielten - vergeblich. Als der erste Panikschub verflogen und die erste Energie verbraucht war, kam sie wieder zur Ruhe. Ein leises Wimmern drang durch ihren Knebel, ihr Atem ging stoßweise, die Lippen zitterten über den brutal eng gespannten Leinen des Knebels. Nicole war ganz allein, und sie hatte Angst.
    Ruhig, Mädchen , ging es ihr durch den Kopf. Du warst schon oft in brenzligen Situationen - und bist immer wieder herausgekommen. Mit letzter Willenskraft zwang sich Nicole Duval, die Panik zu unterdrücken. Sie brauchte jetzt ihre volle Konzentration, volle Energie. Und einen Plan.
    Nach und nach spannte sie die Muskeln an, erst im rechten, dann im linken Arm. Ruhig und systematisch, immer und immer wieder. Anspannen, ziehen, lösen. Anspannen, ziehen, lösen. Bildete sie sich es nur ein, oder lockerte sich der Halt des linken Pfostens wirklich allmählich? Bekam sie etwa so eine Hand frei? Sie hoffte es; bei Gott, wie sie es hoffte!
    Ein Geräusch gleich rechts von ihr, direkt neben ihrem Kopf, ließ sie erstarren. Ein Fauchen, wie sie es erst gestern gehört hatte, jetzt aber aus dem leeren Raum kommend. Das Fauchen eines Jaguars. Und die Panik kam zu Nicole Duval zurück…
    ***
    »Nur, damit ich das richtig verstehe: Sie sind mit McArdbegs Geschichte vertraut?«
    Zamorra lallte beim Sprechen, Blut lief über sein Kinn. Sein Mund fühlte sich taub an, gefühllos
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