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0885 - Die Kralle des Jaguars

0885 - Die Kralle des Jaguars

Titel: 0885 - Die Kralle des Jaguars
Autoren: Simon Borner
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dem rhythmischen Getrommel zweier bärtiger Alter einen Gesang anstimmte. »Ich kenne das Lied, nur nicht den Text«, sagte Nicole leise.
    Zamorra nickte. Die Gemeinde sang - der Melodie nach ein katholisches Kirchenlied, das auch Zamorra und Nicole kannten. Doch der Inhalt der Strophen entzog sich auch ihrer Kenntnis. Langay hatte Morgana diese für den Voodoo sakrale Sprache genannt, und abgesehen von einigen kreolischen Einflüssen konnte er nichts an ihr wiedererkennen. Es klang gespenstisch: gleichzeitig vertraut und doch völlig fremd. Als wären sie plötzlich in einem fremden Land oder auf einem anderen Planeten gelandet. Vor ihnen, zwischen dem Sitzkreis und dem prasselnden Feuer, kroch eine junge Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren über den Boden. Ihr Blick war leer und abwesend, ihr Mund leicht geöffnet, und doch hatten ihre Bewegungen Präzision und Eleganz, ein Ziel. Sie war barfuß, trug eine dünne und bis zu den Knöcheln reichende, weiße Robe und ein Kopftuch aus dem gleichen Material. Weiß war auch das Mehl, welches sie ausstreute und mit welchem sie Pfade und Zeichen legte; Striche und Symbole, die Zamorra nicht verstand, die er aber auch nicht verstehen musste. Er war hier Gast. Was zählte, war der Akt selbst, die den Weg zu den Orichas wiesen.
    Sobald sie fertig war, nahmen die Trommeln ein anderes, schnelleres Tempo an. Körbe wurden geöffnet und zwei ausgewachsene Schlangen von der Größe einer kleineren Boa Constrictor daraus entnommen. Man hängte sie den Trommlern um den Hals; doch die beiden Männer achteten gar nicht darauf. Sie hatten nur Augen für das Feuer, nur Hände für die Instrumente. Kräuter, getrocknete Blätter und Körner wurden in die Flammen geworfen, verbrannten und verströmten dabei ganz eigene, unvergleichliche Gerüche. Intensiv und dennoch leicht. Erdig. Der Gesang ebbte ab und machte einer Stille Platz, die nur noch vom Rhythmus der Trommelschläge und gelegentlichen Ausrufen der sitzenden Gemeindemitglieder unterbrochen wurde. Sie riefen Worte, die in keiner Sprache einen Sinn ergaben, hier und jetzt aber Bedeutung hatten. Worte, die zumindest Bedeutung suggerierten, und bei den Zuhörern auf intuitives Verständnis trafen. Von irgendwoher kam ein Windhauch und fachte das Feuer erneut an, bis die Flammen hoch aufloderten und Funken flogen. Auch dies wurde durch Ausrufe kommentiert, als wäre dadurch eine Bestellung quittiert worden, ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Die junge Frau nahm eine gläserne Flasche in die Hand, die zur Hälfte mit klarer Flüssigkeit gefüllt war, hob sie hoch und streckte sie in alle vier Himmelsrichtungen. Der Wind spielte mit ihrem Gewand, Mondlicht spiegelte sich in dem Gefäß. Dann öffnete die Frau seinen Verschluss und tröpfelte die Flüssigkeit über die Mehlspuren. Gin, roch Zamorra. Gin oder ein ähnlich starker Alkohol. Ein Trankopfer.
    Eine halbe Stunde später tanzten sie. Jeder für sich und doch alle zusammen. Die Hände zum Himmel gestreckt, oder die Schultern vornüber gebeugt und zitternd. Einige sangen, andere lachten, wieder andere hatten die Augen geschlossen und schienen stehend und schwankend zu meditieren, in ihrer eigenen Welt zu sein. Alle Tanzenden hatten Blätter im Mund oder Federn im Haar. Abgesehen von den Trommlern saßen einzig die beiden Europäer und Mama Morgana noch auf dem Boden und sahen dem Treiben - im Falle von Zamorra und seiner Gefährtin - mit äußerster Faszination zu. Vom Feuer stiegen abermals intensive Düfte in ihre Nasen. Zamorra konnte seine Augen kaum noch von den Flammen abwenden. Es war wie ein Rausch, ein Rausch aus Rhythmik.
    »Und nun der Schmuck für die Gäste«, sagte Morgana neben ihm leise, und er blickte auf. Ein junges Mädchen war zu ihnen getreten und hängte Nicole eine Art Kranz aus Ästen und Blättern um den Hals, verziert mit Schnitzereien. Zamorra achtete kaum noch darauf, so sehr hatte ihn die besondere Atmosphäre dieses fremdartigen Abends in ihren Bann geschlagen. Dann kam die Kleine auch zu ihm und wiederholte die Prozedur, lächelte ihn an und…
    Es war absurd, doch über das Prasseln des Feuers, von dem wieder Schwaden verbrannter Kräuter aufstiegen und über die Tanzenden und Trommelnden hinweg, hörte Zamorra plötzlich - er hörte es wirklich klar, deutlich und unfassbar laut! -, wie Nicole den Mund öffnete. Ihre Augenlider flatterten, und es klang in seinen Ohren wie die Flügel einer Taube. Ihre Lippen zitterten, und selbst das nahm
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