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0885 - Die Kralle des Jaguars

0885 - Die Kralle des Jaguars

Titel: 0885 - Die Kralle des Jaguars
Autoren: Simon Borner
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Menschen versammelt hatten. Dreißig Menschen, sechzig Hände. Jede von ihnen trug etwas, und jede etwas anderes. Zamorra sah Trommeln und Feuerholz, Körbe voller rätselhaft aussehender Früchte und Wurzeln, sogar - und darüber dachte er lieber nicht länger nach - zwei Käfige, in denen Hühner aufgeregt gackerten. Er blickte in Gesichter, die angespannt wirkten, dann aber auch wieder voller Freude und Erwartung waren. Es war eine bunt gemischte Gruppe von Männern und Frauen, jungen und alten Menschen, und sie folgten einem Kind, das mit einer Schüssel vorausging. Gelbliches Maismehl befand sich darin, und das Kind verteilte es großzügig auf dem Erdboden, legte einen Pfad, dem alle anderen Gemeindemitglieder folgten. Selbst Blinde hätten ihn bemerkt, so auffällig wie er war, da war sich Zamorra sicher. Die Leidenschaft dieser Menschen, ihre Freude auf das Folgende, die er förmlich spüren, ja nahezu greifen konnte, übertrug sich auch auf ihn und Nicole. Die Nacht war kühl, aber angenehm, und das Licht des vollen Mondes warf genügend Helligkeit hinab, dass sie die Feuerstelle auch ohne die Taschenlampen fanden. Ganz wie Señora Fatima es angekündigt hatte.
    Morgana Fatima. Diese rätselhafte, undurchschaubare Frau. War sie wirklich so weltoffen, zwei völlig Fremde zu einem offensichtlich bedeutsamen Voodoo-Ritual einzuladen? Zamorra bezweifelte es, und doch waren er und Nicole hier, schritten mitsamt den Mitgliedern von Morganas Gemeinde über einen alten Acker, irgendwo im Niemandsland. Das letzte Anzeichen menschlicher Zivilisation, eine dem Anschein nach bereits seit Jahrzehnten aufgegebene, verfallene Tankstelle, hatten sie schon vor einer ganzen Weile hinter sich gelassen und waren nun mehrere Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen von Puerto Cortés. Weit draußen - örtlich und im Falle der Honduraner wohl bald auch geistig. Die beiden Europäer halfen mit und bereiteten gemeinsam mit den Anderen eine Zeremonie vor, die sie noch immer nicht so ganz verstanden, trotz Morganas ausführlicher Erläuterungen und Erklärungen während der Fahrt.
    Sie waren hier fremd, optisch wie inhaltlich, und doch störte sich niemand an ihnen, warf niemand den beiden Weißen fragende Blicke zu. Es war, als wären sie schon längst akzeptiert, ein Teil des Ganzen geworden, und sei es auch nur für diesen einen Abend. Nicht zum ersten Mal fragte sich Zamorra jetzt, ob die Befriedigung seiner Neugierde so viel Einsatz wert war.
    Morgana war neben ihn getreten, die Hände voller Feuerholz. Gut sah sie aus, erstaunlich frisch und jugendlich, in ihrem schlichten weißen Leinengewand, das dunkle Haar nach hinten gebunden. Sie war eine Priesterin, heute mehr denn je. »Voodoo ist kein Hokuspokus, falls Sie das glauben mögen, Professor«, sagte sie, und ihre Stimme war so warm und klar, so sicher und fest. Sie glaubte an das, wovon sie berichtete; das war dieser seltsam zeitlosen Frau deutlich anzuhören. Und sie war froh, es mit ihm, mit allen Anwesenden zu teilen. »Es ist eine Art der Naturverbundenheit, die sich in der Religion äußert. Die Natur wird von Orichas , von Geistwesen, bevölkert, denen wir in Zeremonien wie der heutigen unsere Reverenz erweisen. Die wir milde stimmen, um Schutz und Zuflucht bitten wollen. Um eine Verbindung zum Schöpfer, zu allem.«
    Sie beugte sich hinab, um das Feuer zu entzünden, das die Gemeindemitglieder in den letzten Minuten errichtet hatten. Zamorra blickte sich um und sah in erwartungsvolle, vom Mondlicht erhellte Gesichter. Auch Nicole schien neugierig, was als Nächstes geschah. Erneut staunte er, wie standes- und klassenübergreifend die Zusammenstellung von Mama Morganas »Familie« war - vom armen Rentner bis zum jungen Schulkind war heute Nacht alles vertreten. Und er spürte: Jetzt und hier waren alle gleich wertvoll, alle gleichbedeutend.
    Und die Nacht fing gerade erst an.
    ***
    Als das lebende Huhn geopfert wurde, sah Zämorra, wie Nicole noch erschrocken zusammenzuckte. Doch als man ihnen die Stirn mit seinem Blut kennzeichnete, hielt sie still und ließ es geschehen. ( »Das Huhn ist Leben«, hatte Morgana ihr beruhigend zugeflüstert. »Es verbindet uns mit dem Hier, hält uns an diesem Ort.«) Sie beide saßen gleich neben der Priesterin auf dem staubigen Erdboden, im Kreis um ein flackerndes Feuer verteilt, und seine Gefährtin schaute ihn aufmunternd an. Sie lächelte leicht, während die Flammen immer neue Schatten auf ihr Gesicht warfen und die Gemeinde unter
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