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0722 - Eiswind der Zeit

0722 - Eiswind der Zeit

Titel: 0722 - Eiswind der Zeit
Autoren: M.H. Rückert
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kamen wieder die ersten klaren Gedanken.
    War es richtig von mir, dass ich ihnen die Hilfe verweigert habe?, fragte er sich unsicher. Ich habe zwar fast nur Ärger mit diesen verdammten Franzosen und dem Druiden, aber müsste ich nicht helfen, wenn es in meiner Macht liegt?
    Er erinnerte sich, dass Zamorra ihm mindestens einmal das Leben gerettet hatte. Damals, als er Lucifuge Rofocale jagte und in dessen Falle geraten war… Er stand langsam auf, so, als müsste er neben seinem eigenen Gewicht noch eine überschwere Last stemmen. Vornüber gebeugt stand er da, schwer nach Atem ringend.
    Er hob den Kopf und blickte auf eine Fotografie, die er an die Wand gehängt hatte, das letzte Bild, das von Maurice vor dessen Tod aufgenommen wurde.
    Sein contergangeschädigter Bruder, dessen Füße sich unmittelbar unter den Hüften befanden, im Rollstuhl sitzend, lächelte auf dem Foto, wobei sich das Lächeln nur auf die Lippen beschränkte. Gleichzeitig zeigten seine Augen einen Hauch von Traurigkeit und Unglauben.
    »Was starrst du mich so an!«, schimpfte Cascal heiser. »So… vorwurfsvoll! Ich habe doch nichts getan!«
    »Genau das ist es, Yves. Du tust NICHTS!«, glaubte Cascal zu hören. In genau derselben Stimmlage, die sein Bruder immer gehabt hatte. »Nichts, um den Menschen, die dir nahe stehen könnten, zu helfen! Im Grunde bemitleidest du immer nur dich selbst…«
    »Werde ich jetzt verrückt…?« Ungläubig hielt Yves sich die Hände an den Kopf. »Maurice…« Er schaute das Foto, das er an einem rahmenlosen Bildhalter befestigt hatte, stumm und eindringlich an, doch er hörte keine Stimme mehr.
    Es herrschte Stille, ihm war als hätte er eben nichts gehört. Und doch… Irgendetwas war da gewesen, ein Hauch von Magie, ein letzter Gruß des geliebten Bruders? Oder vielleicht nur die Einbildungskraft seines gequälten Gehirns?
    »Nichts, um den Menschen, die dir nahe stehen kennten, zu helfen!«, echote er und hielt dem Blick von Maurice nicht mehr stand. Seine Augen changierten von hellgrau wieder zu sturmgrau. Er fühlte sich immer noch schuldig, wenn auch nicht am Tod des Bruders, so an der Tatsache, dass sie sich vor Maurices Ermordung gestritten hatten und nicht mehr versöhnen konnten - nie mehr versöhnen konnten.
    »Wo stehen die mir denn nahe?«, brüllte er mit einer Mischung aus Zorn, Hilflosigkeit und Selbstmitleid das Foto an.
    »Und weshalb bemitleide ich mich nur selbst, wenn die, die ich geliebt habe, nicht mehr sind…«, flüsterte er, während ihm zwei Tränen die Wangen hinunterrannen.
    Er setzte sich wieder, wischte die Tränen ab und starrte erneut durch die schmutzigen Fensterscheiben.
    Neben dem Foto von Maurice hatte er eines von Angelique aufgehängt. Ihm schien es als würde ihn die geliebte Schwester ebenfalls strafend ansehen.
    »Bist du auch gegen mich?«, fragte Cascal und ballte die Hände zu Fäusten. »Oder soll das eine Entscheidung für mich sein, wie du immer gesagt hattest?«
    Natürlich gab ihm die Fotografie keine Antwort, aber ein Gefühl der Gewissheit durchzog Yves Cascals Bewusstsein. Seine Frage war irgendwie gehört und beantwortet worden, wenn auch nicht in die Richtung, die er sich erhofft hatte.
    Vielleicht war es einfach nur so, dass er die Gedanken oder Gefühle seiner Geschwister kannte, da er der Älteste von ihnen war.
    Er atmete tief durch, als ob er etwas vollbringen sollte, was ihm zutiefst zuwider war, stellte sich vor die Fotos seiner Geschwister, hatte dabei die Arme in die Hüften gestützt und fauchte: »Also gut, aber nur, weil ihr das so wollt! Von mir aus könnten die nämlich dabei verrecken!«
    ***
    Händchen haltend schlenderten Judith Durham und ihr Freund Neill an den beleuchteten Schaufenstern entlang. Sie betrachteten die Auslagen und diskutierten über eventuelle Neuanschaffungen, die in nächster Zeit nötig wären.
    Langsam kamen sie an das Ende der Geschäftszeile, hier begannen die älteren Bauten, die teilweise noch vom Ende des 19. Jahrhunderts stammten. Trutzige Bauwerke, mit großen Fenstern und umgeben von Steinmauern, die Zeugen einer längst vergangenen Epoche…
    »Jedes Mal, wenn ich hierher komme, fühle ich mich wie in Fackeln im Sturm oder Vom Winde verweht«, gestand Judith. »Findest du das nicht komisch?«
    »Überhaupt nicht«, antwortete Neill ernst. »Genauso wirkt es auch auf mich. Die perfekte Kulisse für eine Südstaaten-Soap-Opera…«
    Die Frau zuckte zusammen, ihr Kopf ruckte herum, ihre gesamte Körperhaltung
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