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07 Von fremder Hand

07 Von fremder Hand

Titel: 07 Von fremder Hand
Autoren: Deborah Crombie
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    Architektonisches Handbuch der Abtei von Glastonbury
     
    An einem milden Juniabend stand Gemma James neben Duncan Kincaid in einer Bankreihe in der St. John’s Church in Hampstead. Sie waren gekommen, um Kincaids Nachbarn, Major Keith, bei der Abendmesse mit seinem Chor singen zu hören.
      Gemma war mit den dürftigen Traditionen des methodistischen Gottesdienstes groß geworden und fühlte sich bei den Anglikanern immer noch etwas befangen. Sie beobachtete Kincaid genau und stand auf, wenn er aufstand; wenn er kniete, ließ auch sie sich unbeholfen auf die Knie nieder, und sie bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der er die Antworten sprach. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen, sie hier zu sehen, dachte sie mit einem kleinen Lächeln, doch bei der Laufbahn, die Gemma eingeschlagen hatte, war sie missbilligende Reaktionen von ihrer Mutter gewohnt.
      Die Musik aber entschädigte sie voll und ganz für das Unbehagen, das die Gottesdienstordnung ihr bereitete. Gemma verfolgte eifrig das Programm in ihrem Faltblatt: zuerst das wunderschöne Eröffnungsgebet, dann ein Psalm, dann das Magnificat und das Nunc Dimittis.
      Dann war ein Rascheln zu hören, als der Chor sich wieder erhob und zu singen begann. Eine Stimme nach der anderen fiel ein, und jede jubilierte noch freudiger als die vorige. Der Klang traf Gemma mit einer nahezu körperlichen Wucht - so reich war er, so voll, dass es den Anschein hatte, als verdränge er selbst die Luft. Sie erzitterte und musste blinzeln, weil ihr die Tränen in die Augen stiegen.
      Kincaid sah sie mit hoch gezogenen Augenbrauen von der Seite an und legte ihr den Arm um die Schultern. »Frierst du?«, fragte er, indem er lautlos die Lippen bewegte.
      Sie schüttelte den Kopf und schlug den Text in ihrem Faltblatt nach. Das Ave Maria von Robert Parsons. »Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade; der Herr ist mit dir; du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes«, lautete die Übersetzung.
      Gemma schloss die Augen und ließ sich von dem voll tönenden, pulsierenden Klang tragen. Der Rest des Gottesdienstes verging wie in einem Traum.
      »Alles in Ordnung?«, fragte Kincaid, als sie hinterher mit der Menge nach draußen gingen. Die tief stehende Sonne tauchte die knorrigen Bäume des sanft abfallenden Friedhofs in dunkle Schatten.
      »Die Musik...«
      »Sehr hübsch, nicht wahr? Die haben einen guten Chor hier in St. Johns.« Er pfiff leise vor sich hin. »Ich habe dem Major versprochen, dass wir ihm einen Drink spendieren. Was hältst du vom Freemason’s Arms? Es ist noch warm genug, um draußen zu sitzen.«
      Gemma blickte ihn konsterniert an. Groß und schlank, mit widerspenstigem kastanienbraunem Haar, das ihm in die Stirn fiel, und dem fragenden, interessierten Blick, mit dem er auf sie herabsah - so präsentierte er geradezu das Idealbild des sensiblen, verständnisvollen Mannes. Wie kam es dann, dass sie plötzlich das Gefühl hatte, er und sie hätten ebenso gut von verschiedenen Planeten stammen können?
      Wie konnte er eine solche Musik so selbstverständlich hinnehmen? Hatte er nicht gespürt, dass ihre Herrlichkeit fast die Grenze des Erträglichen überstieg? Die Kluft zwischen seiner und ihrer Wahrnehmung schien immens.
      »Ich - ich habe Toby versprochen, heute rechtzeitig zum Baden und Vorlesen zu Hause zu sein.« Aber das war gelogen. Die Wahrheit war, dass sie Zeit brauchte, um ganz in sich aufzunehmen, was sie gerade gehört hatte. Außerdem belastete sie das, was sie ihm sagen wollte, aber nicht über die Lippen brachte, zu sehr, als dass sie sich auf Small Talk hätte einlassen können. »Ich nehme die U-Bahn«, sagte Gemma. »Warte du ruhig auf den Major. Und grüß ihn von mir.«
      »Bist du sicher?«, fragte Kincaid. Für einen Moment verriet sein Gesicht seine Enttäuschung, bevor er es in eine Miene freundlicher Neutralität zwingen konnte.
      »Wir sehen uns morgen früh im Yard.« Sie legte ihm die Hand in den Nacken und gab ihm einen raschen Kuss, eine wortlose Entschuldigung. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, machte sie kehrt und ging mit großen Schritten davon.
      Doch bevor sie die Heath Street überquerte, um zur U-Bahnstation am oberen Ende der Hampstead High Street zu gelangen, hielt sie inne. Der Blick von hier oben über die Dächer von London hinweg in Richtung Süden verfehlte nie seine inspirierende Wirkung auf sie. Am liebsten stellte sie sich
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