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0361 - Am Tor zur Hölle

0361 - Am Tor zur Hölle

Titel: 0361 - Am Tor zur Hölle
Autoren: Werner Kurt Giesa
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Stille, die lebte. Denn diese Stille hatte tausend Schreie.
    Und dann erkannte Professor Zamorra die hochgewachsene Schattengestalt, die sich durch den Ring der zurückweichenden Tierwesen schob. Sie trug eine Art Gewand, das aus staubbeladenen, halbverrotteten Spinnweben geschaffen schien. Seine Hand stützte sich auf einen hohen Stab, an dessen Spitze ein Auge geschnitzt war.
    Kein Zweifel. Sie hatten den blinden Seher Teiras gefunden.
    Professor Zamorra erkannte die toten Augen in einem faltigen Gesicht, das eher an einen Totenschädel erinnerte. Die ledrig wirkende Haut zeichnete jede Kontur der Knochen nach. Schmutzigweißes Haar wallte bis über die Schultern. Ein wildwuchernder Bart floß über die ganze Brust bis zu dem Stick, mit dem das Gewand um die Hüfte gegürtet war.
    Zamorra sah, wie sich der Mund des blinden Sehers öffnete und schloß. Teiras wollte mit ihnen reden. Doch es war kein Wort zu vernehmen.
    Teiras, der blinde Seher, war stumm.
    Verzweifelt versuchte Zamorra, dem Blinden die Worte von den Lippen abzulesen. Eine Kunst, die er sonst perfekt beherrschte, weil man an der Mundstellung die Laute einigermaßen erkennen und mit etwas Geschick und Übung so die Worte erraten kann. Taubstumme beherrschen diese Kunst im allgemeinen ganz vorzüglich. Aber hier hatte der Meister des Übersinnlichen Pech.
    Für ihn war nur erkennbar, daß Teiras die altgriechische Sprache, in der sie sich in dieser Zeit verständigten, in einem sonderbaren Dialekt aussprach, den Professor Zamorra nicht kannte. Unmöglich, die Laute so wiederzugeben, daß es Odysseus vielleicht gelingen konnte, den Sinn seiner Rede zu verstehen.
    Es mußte eine andere Möglichkeit geben, um die Worte des Teiras für Odysseus und Zamorra hörbar zu machen. Denn sonst war alles vergeblich.
    Zurück konnten sie nicht. Und wer wußte, wo die Wege endeten, die voran führten… ?
    ***
    Wieder dachte Professor Zamorra an die Überlieferung der »Odyssee«.
    In der Sage schlachtete Odysseus Schafe als Totenopfer. Der blinde Seher Teiresias trank von dem Blut und weissagte Odysseus die Zukunft.
    Auch andere Helden, mit denen er vor Troja gekämpft hatte, konnte Odysseus so für eine kurze Weile zu einem Scheinleben erwecken.
    »Blut!« stieß Professor Zamorra hervor. »Er muß Blut trinken, um so zu leben, daß wir ihn verstehen.«
    »Wenn es weiter nichts ist – das kann er haben!« stieß Odysseus hervor.
    Das Schwert blitzte auf. Ein kühner Schnitt – dann hatte sich Odysseus am linken Oberarm eine kleine Wunde beigebracht aus der träge, dunkelrote Blutstropfen hervorquollen.
    »Gut so!« nickte Zamorra. Er nahm das Amulett von seinem Hals und ließ einige Tropfen auf die Rückseite der Silberscheibe niederfallen. Das Blut perlte auf dem Metall, ohne daß Merlins Stern aktiv wurde. Hier in dieser Welt schien die Kraft der entarteten Sonne zu versagen. Es war jetzt genauso, als ob Zamorra das Blut des Odysseus auf einer ganz normalen Silberscheibe aufgefangen hätte. Es war kaum anzunehmen, daß die Macht des Amuletts in der Eigenwelt durch die Berührung mit Blut beeinträchtigt wurde.
    Langsam ging Zamorra auf den blinden Seher zu. Die Tierkreaturen wichen zurück und gaben ihm den Weg frei. Teiras schien den Lebenssaft zu wittern. Er kam Professor Zamorra entgegen und öffnete den Mund.
    Eine von grauem Schleim überzogene Zunge streckte sich Zamorra entgegen.
    Der Parapsychologe hielt das Amulett so, daß der blinde Seher die Blutstropfen ablecken konnte.
    Sofort waren klare Worte zu verstehen. Doch es war eine Sprache, die Professor Zamorra kaum verstand.
    »Es ist der alte Dialekt der Stadt Theben!« rief ihm Odysseus zu. Dann redete der Fürst von Ithaka mit dem blinden Seher in der gleichen Sprache.
    »Ich erkläre alles später!« preßte er zwischen seiner Rede für Zamorra verständlich hervor. »Die Blutstropfen geben ihm nur für wenige Augenblicke ein Scheinleben. Danach ist er wieder stumm – oder er benötigt neues Blut!«
    Professor Zamorra nickte nur. Für ihn war das ein völlig logisches Phänomen.
    Die Welt der Seelen und Geister und die Gesetze der Totenwelten waren anders, als es sich ein normaler Mensch begreiflich machen konnte.
    Schließlich wurden die Laute des blinden Sehers schwächer und verstummten.
    »Komm, Zamorra!« drängte Odysseus. »Wir müssen fort. Hier ist der Ort des Todes. Jeder, der lange verweilt, wird an den Platz gebannt, an dem er gezögert hat und nicht vorwärts gegangen ist. Ich werde
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