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0207 - Der Steinriese erwacht

0207 - Der Steinriese erwacht

Titel: 0207 - Der Steinriese erwacht
Autoren: Rolf Michael
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Höchstfälle bis an die Waden. Selbst mit einem Auto konnte man diese Furt bequem durchfahren.
    Und so hatte man darauf verzichtet, hier eine Brücke zu schlagen oder wenigstens einen Steg zu bauen, daß Fußgänger trockenen Fußes hinüber kommen konnten.
    Marty, Sumerset kannte das. Und sie machte sich keine Gedanken darüber, warum man hier nicht trockenen Fußes hinüber kam. Und den alten Legenden, daß hier einer der Wassernöcken seine Wohnung haben sollte, schenkte sie ohnehin keinen Glauben.
    Hier waren die Menschen seit Urvätertagen durch das Gewässer gezogen. Es war einfach zu flach, daß hier etwas passieren konnte. Und daß der alte Emery Baker, ein in der ganzen Gegend bekannter Trunkenbold hier ertrunken war, das lag auch schon mindestens fünfzehn Jahre zurück.
    Niemand, der diese menschliche Whisky-Vertilgungsmaschine kannte, hätte dabei den verrufenen Wassernöck in Verbindung gebracht. Baker war im Suff gestürzt und hatte sich nicht mehr erheben können. Basta. Hat sich was mit Wassergeistern.
    Die Polizei war übrigens gleicher Ansicht gewesen.
    Marty Sumerset stoppte das Rad unmittelbar vor dem Bach. Das Wasser war heute sonderlich trübe. Man konnte nicht bis auf den Grund sehen.
    Seltsam!
    Aber das mochte an den Regengüssen der letzten Tage liegen, die allerhand Lehm und Erde von den Hügeln herabgeschwemmt hatten. Nur waren jetzt nicht verschiedene Steine im Bachbett sichtbar, die man sonst mit dem Fahrrad umlenken mußte, wollte man nicht schwer stürzen.
    Die Frau beschloß, die Furt zu Fuß zu durchqueren und das Rad zu schieben. Besser, die Füße wurden naß, als daß sie durch einen unsichtbaren Stein die Balance verlor, stürzte und so ein Vollbad nahm.
    Mit wenigen Handgriffen entledigte sie sich ihrer Schuhe und Strümpfe. Ein bißchen Erfrischung konnte den Füßen nur gut tun. Dann griff sie fest den Lenker und schob das Fahrrad vorwärts. Schon drehte sich das Vorderrad im Wasser.
    Augenblicke später umschmeichelte die angenehme Kühle des Wassers ihre Füße. Und Marty Sumerset schritt weiter voran.
    Es waren die letzten Schritte ihres Lebens.
    Denn im Wasser lauerte es.
    ***
    Carsten Möbius hatte seine Richtung. Und die wies ihm ein uraltes Hügelbild, wie sie in Südengland häufig anzutreffen sind. Denn die sanft ansteigenden Hügel laden förmlich dazu ein, mit den weißen Steinen auf ihnen Bilder zu legen, die von weiten Entfernungen sichtbar sind. Und diese Art, sich künstlerisch zu betätigen, ist uralt.
    Meist sind es Pferde, deren Konturen man von weiter Entfernung erkennt. Am besten bekannt ist das »Weiße Pferd von Wiltshire«, gar nicht weit entfernt von dem alten Heiligtum Stonehenge.
    Hier jedoch handelte es sich um die schematische Darstellung eines Menschen, dessen rechte Hand eine Art Keule schwang und dessen Anblick sonst den Mädchen die Schamröte ins Gesicht trieb und denen, welche die Jugendlichen über die Fortpflanzung des Menschengeschlechts aufklärten, besten Anschauungsunterricht gab.
    Carsten Möbius konnte sich daran erinnern, irgendwann einmal etwas darüber gelesen zu haben. Die Figur sollte ungefähr sechzig Meter hoch sein und, den Schätzungen der Gelehrten zufolge, aus dem Jahre 200 n.Chr. stammen.
    Ob das Steinbild nun einen Priapus oder einen Herkules darstellte, das war der Dorfjugend von Cerne Abbas egal, die um diesen Riesen noch heute den halbheidnischen Brauch treiben, daß die, welche ihn zusammen umlaufen, dereinst als Ehepaar starke Kinder haben werden.
    Für Carsten Möbius bedeutete der Anblick des Riesen etwas anderes. Nämlich, daß sich in seiner Nähe ein Dorf mit einem Gasthof befand. Seit dem er am frühen Morgen von London losgefahren war, hatte er nichts rechtes mehr gegessen, von einer Portion Fish and Chips und einer Tasse Tee an einer Imbißbude mal ganz abgesehen. Es wurde Zeit, daß er so etwas wie ein Steak oder ein Roastbeef zwischen die Zähne bekam. Ja, und ein dunkelbraunes Ale konnte auch den sonderbaren Geschmack in seinem Hals wegspülen.
    Er pfiff sich eins und ging schnurgerade auf den Hügel zu, von dem aus der Riese in die Landschaft stierte. Weidezäune, die seinen Weg behinderten, wurden grundsätzlich überklettert. Das Vieh auf den Weiden wich zur Seite und nur einmal mußte er sich einem neugierigen Jungbullen, der ihn zum Sparringspartner für einen Boxkampf ausersehen hatte, durch schnelle Flucht entziehen.
    Carsten Möbius war kein Feigling, vermochte aber doch, seine Chancen abzuwägen.
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