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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Isidor war dabei, seine morgendliche Zeitungslektüre mit Erwin zu besprechen. »Die Deutschen kaufen wieder mehr ein«, zitierte er den »General-Anzeiger«. »Die Umsätze des Einzelhandels im Reich sind im ersten Halbjahr um zehn Prozent gestiegen.« Er faltete die Zeitung zusammen und seufzte. »Den Posamentier Sternberg haben sie vergessen zu erwähnen«, sagte er. »Der verkauft höchstens einen Meter Samt pro Tag und wartet jeden Morgen darauf, dass man ihm in der Nacht die Schaufensterscheiben eingeschlagen hat.«
    »Es hat keinen Sinn mehr, Vater. Gib auf, bevor man dich dazu zwingt. Ich könnte es nicht ertragen, mit anzusehen, wie der ehrenwerte Raffzahn Pius Ehrlich zum zweiten Mal die Schilder am Geschäft auswechselt.«
    »Wir müssen ja nicht hinschauen. Er ist schon auf mich zugekommen. Weiß Gott, nicht bloß einmal.«
    Es war – Erwin wusste es noch nach Jahrzehnten – genau nach diesem Eingeständnis der totalen Resignation, dass der Briefträger Sturm klingelte. Das Frankfurter Büro des Hilfsvereins der Juden in Deutschland forderte Erwin Sternberg per Einschreiben auf, »persönlich und umgehend und mit sämtlichen erforderlichen Unterlagen auf der Beratungsstelle für Auswanderer vorzusprechen«.
    »Ich habe doch gar keinen Kontakt mit dem Hilfsverein aufgenommen«, murmelte Erwin. »Es wird wieder einmal das ganz große Missverständnis sein. Ich wette mit dir um eine Flasche Cognac. Wie lange hält man es eigentlich aus, dass die Hoffnung einen an der Nase herumführt?«
    »Bis zum Tod«, erwiderte Johann Isidor.
    Zwei Wochen nach seiner verlorenen Wette war Erwin im Besitz von drei Ausreisegenehmigungen aus Deutschland und drei Einreisezertifikaten in das britische Mandatsgebiet Palästina. Was geschehen war, welche gütige Fee den dreien vom vierten Stock im Haus Rothschildallee 9 beigestanden hatte oder weshalb ausgerechnet die Gebete eines lebenslangen Zweiflers die Kraft gehabt hatten, deutsche Ämter und britische Behörden gnädig zu stimmen, wurde nie bekannt. Ein jeder rätselte, weshalb Menschen im Alter von siebenunddreißig Jahren in ein Land einreisen durften, in dem nur die Jungen willkommen waren, und da vorzugsweise landwirtschaftliche Arbeiter, industrielle Facharbeiter und Handwerker.
    Erwin war so aufgeregt, dass er sich auf dem Nachhauseweg an einem stadteigenen Kastanienbaum in einem öffentlichen Park übergeben musste, in Tränen ausbrach und spontan ein Dankgebet sprach – in seiner Verwirrtheit wählte er ausgerechnet den Segensspruch für Wein. Er brauchte drei Tage und nach jeder Mahlzeit einen Magenbitter und Kamillentee, ehe er seiner Schwester verriet, was in seiner Aktentasche lag. Obwohl die Geschwister sich einig waren, dass die Zeit sie drängte, ließen sie zwei Wochen verstreichen, bis sie mit ihren Eltern und Claudette sprachen.
    Betsy beteuerte mit roten Flecken im Gesicht und mit ineinander verschränkten Händen, sie sei so glücklich wie noch nie in ihrem Leben; nachts weinte sie sich in eine Seelenstarre, die noch gewaltiger war als der Schmerz, der ihr bei Alicens Abfahrt ein Stück vom Herzen gerissen hatte. Johann Isidor konnte eine Viertelstunde lang kein Wort sagen. Danach versicherte er seinem Sohn mit dem Stolz, der seinem Verantwortungsgefühl und seiner Weitsicht gebührte, dass vom Erlös des Hauses in der Glauburgstraße genug Geld geblieben war, um alle Unkosten zu decken. »Einschließlich der Schiffspassagen«, betonte er.
    Josepha schrie so laut »Mein Bub!«, dass in zwei von den gegenüberliegenden Wohnungen die Fenster aufgerissen wurden. Die beiden Worte wiederholte sie tagelang und konnte doch nicht fassen, was das Leben ihr nahm. Einzig Claudette reagierte anders als erwartet. Als sie erfuhr, dass ihr Schicksal entschieden war, schloss sie sich, wie in den alten Tagen von Trotz und Erwachsenwerden, mit ihrem Hund in ihrem Zimmer ein. Zwei Stunden lang war es so still, dass ihre aufgewühlte Mutter und der tief beunruhigte Erwin sich einig waren, es sei ihre Pflicht, die Tür einzutreten.
    Am Ende der einhundertzwanzig bedrohlichen Minuten aber kehrte Claudette ins Wohnzimmer zurück, als sei der Tag der Endgültigkeit einer wie die übrigen. Zu einem schwingenden Sommerrock, auf dem Mohnblumen blühten und Schmetterlinge flogen, hatte sie eine kragenlose weiße Bluse angezogen, die wie ein Engelsgewand aussah. Claudettes Augen waren nicht rot geweint, ihre Hände zitterten nicht, auch die Stimme war fest. Einen Moment, der
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