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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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mit uns zur Nacht gebetet«, sagte Erwin. »Schade, dass du dir keine günstigere Gelegenheit ausgesucht hast, um jüdische Familieninnigkeit und Mutters Fischklöße kennenzulernen.«
    »Ich hab mir nie was im Leben ausgesucht. Das haben immer andere für mich getan.«
    »Was heißt das?«, fragte Fanny.
    »Das war nur ein Scherz«, erklärte ihr Anna.
    »Ich kann aber nicht lachen, wenn ich ihn nicht verstehe«, monierte die Kritische.
    Die Suppe war so kräftig und schmackhaft wie schon lange nicht mehr, die Hechtklöße so wohlgeformt und locker wie in den Zeiten, als das adelige Fräulein im Schweizer Pensionat ihren Schülerinnen noch weismachen konnte, das Eheglück einer jeden Frau hinge von ihrer Geschicklichkeit am Herd und einer gut geschulten Zunge ab. Hühnerkeulen mit wolkenweißem Fleisch und Bruststücke ohne Haut, dazu die Flügel für die beiden Kinder mit Karottenscheiben, in die Augen und Mund geschnitzt waren, waren mit Sträußchen von Petersilie in einer schäumenden gelben Soße arrangiert. »Otto wollte noch die Flügel haben, als er in der Untersekunda war«, erinnerte sich Betsy.
    »Und wahrscheinlich bin ich leer ausgegangen«, versuchte Erwin einen Scherz.
    »Nein, ich«, klärte ihn Clara auf.
    »Glaub ich nicht«, widersprach Fanny.
    Der kleine Salo, zu dünn, immer blass und als schlechter Esser familienberüchtigt, verlangte einen Nachschlag; nach dem zweiten Stück Hühnerbrust leckte er seinen Teller sauber. Josepha aber weinte in der Küche. Erwin hatte nur ein paar Löffel von der Suppe, einen einzigen Hechtkloß und kaum etwas vom Hauptgang gegessen. »Kein Wunder, dass meinem Bub der Appetit vergangen ist«, klagte sie. »Ausgerechnet beim letzten Schabbes kann er nichts essen. Das werde ich diesen gottverdammten Nazis nie verzeihen.«
    Obwohl Josepha die große Gemüseschale vom Limoges-Geschirr in Händen hielt und von dem kostbaren Service seit Jahren kein Stück mehr zu kaufen war, drückte Betsy ihre Köchin an sich. »Wir dürfen es ihm nicht schwer machen«, mahnte sie. »Wir müssen so tun, als glaubten wir immer noch, dass alles gut wird. Menschen, die ihre Heimat verlassen, brauchen Sicherheit, Josepha. Etwas, an das sie sich klammern können. Am besten, wir servieren jetzt das Dessert. Ihr Nachtisch hat immer Kinderwunden geheilt, Josepha.«
    Die Zitronencreme mit fein geriebenen Schokoladenstreuseln und Löffelbiskuits, in hellgrün getönten Sektkelchen mit einer eingemachten Sauerkirsche vom eigenen Baum serviert, bewirkte die alten Wunder. Salo, der eben noch über das mütterliche Verbot geweint hatte, die Tafel ohne Erlaubnis zu verlassen, fragte verlangend: »Warum ist nicht immer Schabbes?«
    »Dummkopf!«, beschied ihn seine Schwester. Sie war noch nicht alt genug, um sich, wie ihre beiden Großmütter, an einem vierjährigen Philosophen zu erfreuen. Mit ihren sechs Jahren ahnte sie aber schon, wie es um die Endgültigkeit im Leben der Menschen bestellt ist.
    »Werde ich«, fragte sie, »Onkel Erwin und Tante Clara nie mehr wiedersehen? Und Claudette. Ist Verreisen wie tot sein?«
    »Pst«, sagte ihre Mutter. »Was dir auch immer einfällt, Kind. Das jammert ja einen Hund.«
    »Lass sie reden«, hielt Johann Isidor seiner schwierigsten Tochter vor. »Klugen Menschen verbietet man nicht den Mund. Und klugen Kindern schon gar nicht.«
    Nach dem Mokka wurde es still. Fanny und Salo, sonst bei jeder Gelegenheit kampfbereit und wortgewaltig, schliefen im grünledernen Ohrensessel, aneinandergeschmiegt wie ein Liebespaar, das an die eigenen Träume glaubt. Fremde hätten gemutmaßt, die Kinder würden fiebern, doch die kleinen Feuereisens hatten lediglich die Reste in den Likörgläsern aufgeschleckt und den üblichen Feiertagsrausch.
    Von den Erwachsenen traute sich keiner, das zu sagen, was ihn bewegte. Einmal, als ihre Eltern und die Witwe Feuereisen aussahen, als würden sie in den kurzen Schlaf flüchten, der ein paar Atemzüge lang das Leiden an der Welt zu lindern vermag, stand Clara auf. Sie umarmte erst Victoria und dann Anna. In diesem Moment der Bekennung, da sie sich der Wahrheit auslieferte, war Clara ihren Schwestern so verbunden wie nie zuvor.
    »Mach’s uns nach«, flüsterte sie Victoria zu, »der Kinder wegen.«
    »Wir sehen uns wieder«, tröstete sie Anna. »Wir müssen daran glauben.«
    Der Familienrat, bestehend aus Johann Isidor, Frau Betsy und Josepha, war sich einig: die schlaftrunkenen Kinder, Victoria und erst recht ihre Schwiegermutter,
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