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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Feiertagen und »ganz so, wie Ihr, meine lieben Eltern, es Euch bestimmt wünschen würdet. Mithilfe der Gemeinde hier«, begründete die selige Braut die ungewöhnlich rasche Wendung ihres Lebens zum Guten. »Die kümmert sich ganz rührend um Menschen wie uns.« Rosch Haschana, den Beginn des jüdischen Jahres, umschrieb sie als den »Tag des guten Essens«.
    »Die Mühe könnte sie sich allmählich sparen«, meinte Erwin. »Den Nazis kann man viel nachsagen, nur nicht, dass sie blöd sind. Die wissen längst, dass es die Juden sind, die Briefe aus dem Ausland bekommen.«
    »Such doch nicht immerzu das Haar in der Suppe, Erwin. Freu’ dich lieber, dass deine Schwester heiraten kann. Ich hätte nie gedacht, dass das alles so gut ausgeht. Frau Zuckermann stimmt einen ja nicht gerade optimistisch und herzensfroh.«
    »Sei mir nicht böse, Mutter, es gibt ganz andere Dinge, über die ich mich freuen möchte, als Alicens Traumhochzeit unter Afrikas Sonne.«
    Anfang Herbst gab Erwin die Hoffnung auf, ihm, Clara und Claudette würde es im Jahr 1937 noch gelingen, als legale Einwanderer nach Palästina zu gelangen. Seit drei Monaten rührte sich nichts mehr in dem zermürbenden Kampf um die Ausreisegenehmigungen aus Deutschland und die Einreisevisa nach Palästina. Alle Gesuche blieben unbeantwortet; nie gelang es Erwin, bei empfohlenen Beratern und offiziellen Instanzen vorzusprechen. Immer wieder erfuhr er von Schicksalsgenossen, die, als sie ihre Auswanderungspapiere endlich beisammenhatten, nicht an Schiffspassagen gekommen waren. An manchen Tagen war er so niedergeschlagen, dass er in Lethargie verfiel und sein Ziel vollkommen aus den Augen verlor. In solchen Stimmungstiefs war er um seiner Eltern und Josephas willen, die er im Fall einer Emigration ja allein würde zurücklassen müssen, sogar froh, dass seine Hoffnungen versandeten und das Leben zu einem Stillstand gekommen war. Der Gleichgültigkeit folgte Verzweiflung. Dann war er überzeugt, die Verfolgung der Juden in Deutschland würde noch ganz andere Formen als die bisherigen annehmen.
    »Was immer es ist«, sagte er zu Clara, »Hauptsache, es geht schnell.«
    »Ich nehm’s, wie’s kommt«, erklärte er seinem Vater. »Was auf dem Teller liegt, wird gegessen. Hast du das nicht immer gesagt?«
    Es war Freitag, der Abend noch in der anbrechenden Dämmerung sommermild und erfüllt vom Duft der Lindenbäume. Die Vögel hockten schon in den Zweigen, die Rosen in den Blumenbeeten hatten noch sommerschwere Köpfe. Liebespaare, die von keinen Schildern aus dem Paradies gewiesen wurden, saßen auf den Bänken und schauten in die Wolken. Der Vater und sein Sohn waren unterwegs zu der Synagoge in der Friedberger Anlage. War ihnen der Tempel die Stätte, um sich Gott anzuvertrauen, seinen Beistand zu erflehen?
    Die Frage hätte Johann Isidor verlegen gemacht und Erwin verblüfft. Die männlichen Mitglieder der Familie Sternberg hatten das Beten nie gelernt. Trotzdem war ihnen in den Zeiten der Seelennot die Einkehr im Haus Gottes zur Gewohnheit geworden. Dort kannte man die Gesichter, die man sah; in der Synagoge konnten Juden noch ohne Furcht miteinander reden. Dort waren Fremde nicht Lauscher und Späher. Zuweilen erfuhren sie auch Neues, Wichtiges, Unerwartetes – Details, über die sie Bescheid wissen mussten, um im Strom des Lebens weiter mitschwimmen zu können.
    »So darfst du nicht denken«, protestierte Johann Isidor. »Wenn die Juden immer widerspruchslos alles gegessen hätten, was auf den Tisch kam, gäbe es gar keine Juden mehr. Moses ist auch losgegangen, als er musste.«
    »Moses hatte auch göttlichen Beistand, Vater. Trotzdem ist er nicht im Gelobten Land angekommen. Warum soll ich es weiter versuchen?«
    »Weil du eine Verantwortung hast, mein Sohn. Claudette ist gerade neunzehn. Soll sie nicht unter Menschen leben, für die sie ein Mensch ist? Und Clara? Hier ist sie schutzlos. Wahrscheinlich hätte sie geheiratet, wenn du ihr nicht genug gewesen wärst. Ein Leben lang.«
    »Mir ist es nicht anders gegangen.«
    »Spring nicht ab vom fahrenden Zug, Erwin. Gib die Hoffnung nicht auf, ehe man sie dir nimmt.«
    Zwei Wochen später geschah tatsächlich Unfassbares. Der Kalender zeigte Donnerstag, den 19. August, an, die Uhr im Wohnzimmer die zwölfte Tagesstunde. Betsy hatte Victoria gebrauchte Kinderkleidung von den Enkeln ihrer Freundin gebracht und war noch nicht wieder daheim. Josepha suchte auf der Berger Straße nach frischer Kalbsleber. Johann
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