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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Erst hier ist mir aufgegangen, wie viel ich Euch zu verdanken habe und wie gut ich es immer hatte. Ich schreibe sehr bald wieder und küsse Euch alle mit großer Sehnsucht. Eure dankbare Tochter, liebende Schwester und treue Tante Alice.«
    Es war so still und die Luft im Salon so schwer, als wäre der Schöpfer dabei, die Welt neu zu erschaffen. Dann hechelte der Hund und schnappte nach einer Fliege. Seine Zähne schlugen laut aufeinander, doch die Beute flog zum Fenster hinaus. Betsy verdeckte ihr Gesicht mit einem Taschentuch, Johann Isidor schlug mit seiner Rechten auf die Tischplatte und seinen Siegelring gegen das Holz. Claudette faltete den Brief zusammen und sofort wieder auseinander. »Warum«, fragte sie mit der Kinderstimme, der ihr Großvater nie hatte widerstehen können, »erwähnt Alice das extra, dass die Leute am Freitagabend Kerzen anzünden und samstags nicht kochen.«
    »Sie wollte uns wissen lassen, dass sie bei Juden arbeitet, aber sie wollte das Wort jüdisch vermeiden. Für so schlau hätte ich das kluge Kind gar nicht gehalten«, antwortete Clara.
    »Immer schön spitz, meine älteste Tochter«, sagte Betsy. »Das macht dich so unwiderstehlich. Es wird ihr jemand geraten haben. So einfach ist das. Ob man wohl Pakete nach Südafrika schicken kann?«, fragte sie ihren Mann.
    »Dürfen Juden überhaupt noch Pakete versenden? Ich nehme an, Frau Zuckermann wird das wissen. Vielleicht könnten wir Alice ihre Wollsachen schicken.«
    »Und was zu essen«, ereiferte sich Josepha. »Das muss man sich vorstellen. Gurken als Brotbelag. Ein so verwöhntes Mädel wie unsere Alice kann sich nicht satt essen und rennt in Kleidern von fremden Leuten herum. Mir bricht es das Herz.«
    »Ich fürchte, Ihr Herz wird noch ganz andere Gelegenheiten finden, um zu brechen, Josepha«, erklärte ihr Johann Isidor. »Wir müssen alle lernen, mit unseren Gefühlen hauszuhalten.«
    Sie lernten es. Monat um Monat wurde die Stimmung gedrückter und der Himmel düsterer. Die Ausgrenzung der Juden wurde systematisch und mit abgrundtiefer Phantasie betrieben. Der Blick, den die Nachbarn über den Zaun der jüdischen Häuser warfen, war nicht nur bösartig und hämisch. Er wurde gemeingefährlich. Eine Nachbarin vom gegenüberliegenden Haus in der Martin-Luther-Straße zeigte an, dass »die Köchin aus dem Küchenfenster der Rothschildallee 9 schmutziges Wasser gekippt hatte. Um ein Haar«, schloss die korrekte Bürgerin, eine Frau in bestem Alter, Mutter dreier Kinder und in der Nachbarschaft als Tierfreundin gerühmt, »hätte das Wasser spielende deutsche Kinder getroffen.« Das Ordnungsamt erklärte sich nach »persönlicher Befragung der Verdächtigten Josepha Krause« bereit, »soweit es bei dieser einmaligen Verfehlung bleibt, gegen Überweisung von fünfzig Reichsmark von einer Strafanzeige abzusehen. Das Geld wird dem Winterhilfswerk zugeführt. Heil Hitler.«
    Eine kurze Zeit später wurden Eheschließungen zwischen »Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes« verboten. »Jüdische Rassenschänder« wurden mit Konzentrationslager bedroht. »Ich weiß noch nicht einmal, ob uns das was angeht oder nicht«, sagte Anna.
    »Im Zweifelsfall immer«, wusste Hans, »glaub mir. Ich hab Erfahrung.«
    Die beiden gaben den Traum auf, ihre Liebe auf einem deutschen Standesamt zu legalisieren. Sie taten keinen Seufzer, als sie auf die Heirat verzichteten; sie schauten sich nach einer Vermieterin um, die in ihrer Wohnung zwei Zimmer zur Untermiete anbot. »Ich habe schon so viel in meinem Leben warten müssen«, erklärte Hans, als die beiden in die Rothschildallee zum Sonntagskaffee kamen. »Warum sollen Anna und ich nicht in Ruhe darauf warten, dass wir die Nazis überleben? Dann schert sich keiner mehr darum, wer wen heiratet und warum.«
    »Und außerdem«, sagte Anna, keck wie noch nie, »bin ich ein uneheliches Kind gewesen. Warum soll ich als lediges Fräulein kein uneheliches Kind kriegen?«
    Die Vermieterin mit zwei großen, nebeneinanderliegenden Zimmern fand sich in Offenbach. Sie hieß Sedlazky, was darauf schließen ließ, dass in ihren Adern nicht allein das reine Blut der Germanen floss. Frau Sedlazky hatte einen großen Busen, ein ebenso großes Herz und einen kirschroten Lippenstift. Sie fragte nicht, weshalb sie nachts erst die Dielen und dann die Bettfedern quietschen hörte. Ihr Mann war in Verdun gefallen, ihr Sohn beim Einsatz der Legion Condor über Guernica in Spanien abgestürzt.
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