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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Trotzdem sah er nicht abgehetzt aus und schon gar nicht wie ein Mann, der sich geniert, weil er sein Wort nicht gehalten hat. Er stand aufrecht am Bahnsteig, sicher wie einer, der noch mehr Lebensjahre vor sich hat, als er zählen kann. Mit einer Hand berührte er die Wand vom Abteil.
    »Opabär«, hauchte Claudette, »ich hab’s mir so gewünscht.«
    »Meine Lieblingsenkelin«, sagte Johann Isidor. »Ja, das bist du und das bleibst du. Erzähl das bloß nicht Fanny. Und schon gar nicht ihrer eifersüchtigen Mutter.«
    »Ich kann’s ihr doch gar nicht mehr erzählen.«
    »Wortklauberisches Gör.«
    Sie standen dicht gedrängt im Fensterrahmen und wärmten sich aneinander. Ihre Gesichter waren spitz und grau und von einer Trauer verzerrt, wie sie keiner von ihnen je erlebt hatte, doch für den Vater waren es Kinderaugen, in die er schaute. »Ich konnte nicht anders«, sagte er, »es hat einfach nicht geklappt. Bei Otto war es damals genauso, aber ich glaube, er war froh, als ich zum Ostbahnhof kam. Er sah so verloren aus. Wie bestellt und nicht abgeholt.«
    »Ich bin auch froh, Vater«, sagte Erwin. »Ich wollte, ich könnte jetzt etwas Gescheites sagen, etwas, an das du dich ein Leben lang erinnern kannst, doch es fällt einem so verdammt wenig ein, wenn man aus der Heimat abfährt.«
    »Du fährst nicht aus der Heimat ab, mein Sohn. Du lässt die Hölle hinter dir.«
    Johann Isidor Sternberg, der Vater, dem sein deutsches Vaterland zum zweiten Mal einen Sohn entriss, blickte dem abfahrenden Zug noch lange nach. Er bezweifelte, dass Erwin noch verstanden hatte, was er ihm eben noch zugerufen hatte. Jedoch erst in dem Moment, da er eine Bewegung machte, seinen Hut zu richten und ihm einfiel, dass der im Flur in der Ablage lag, lief Johann Isidor eine Träne die Wange herunter.
    Weil ihm vor dem Ziel schauderte – die leer gewordene Wohnung mit zwei weinenden Frauen –, beschloss er, den weiten Weg nach Hause zu Fuß zu gehen. An dem Wagen mit den blauen Luftballons, von denen einer eine Viertelstunde zuvor einen Hauch von Lebensfreude in Claudettes wundes Herz gezaubert hatte, kaufte er ein mit Leberwurst belegtes Brötchen. Fette Wurst hatten ihm sowohl Doktor Meyerbeer als auch Betsy verboten. Später kaufte er eine Zeitung und schließlich eine Packung Mandelkekse, die Josepha so gern aß und nie gebacken hatte, weil Erwin keine Nüsse mochte. An den breiten steinernen Pfeiler vor seinem Haus, das ihm bald nicht mehr gehören würde, hatte jemand »Juden nach Dachau!« geschmiert. Die schwarze Farbe war noch feucht. Johann Isidor zuckte noch nicht einmal zusammen. Der Gedanke machte ihn froh, dass für Claudette die Zeit der Angst und Beschämung vorbei war.
    Im ersten Stock keifte ein Hund. Es dauerte eine Weile, ehe Johann Isidor einfiel, dass es der glückliche, ahnungslose Snipper mit den zuversichtlichen Augen war, der da bellte. »Auf den Hund gekommen sind wir«, sagte er zu Betsy.
    Sie war dabei, das zu tun, was sie seit vierzig Jahren immer Mitte November getan hatte, die Sommergarderobe zu versorgen. Josepha war mit Sommerjacken, leichten Riemchenschuhen und Seidenkleidern unterwegs zum Speicher.
    Johann Isidors Hände wurden klamm. Er spürte Schweißtropfen auf der Stirn und rief gellend: »Nein!« In genau diesem Moment sah er die helle Jacke mit den beiden tiefen Taschen, die er bei den langen Spaziergängen mit Meyerbeer getragen hatte. »Lass das«, sagte er, »wenn ich schon hier bin, kann ich die Taschen ja selbst leer machen.« Der Schweiß auf seiner Stirn wurde eiskalt. Ohne Erbarmen prügelten die Bilder auf ihn ein, sie jagten einander in einen Brunnen ohne Boden. Erst heulte der Wind, dann tobte der Sturm.
    »Das Gift«, erklärte Betsy, »habe ich schon vor Ewigkeiten aus der Jacke genommen. Der gute Meyerbeer wird immer schusseliger. Er hat sich verplappert.«
    »Und was sollen wir machen, wenn es so weit ist? Die Schläge kommen immer näher.«
    »Das Thema vertagen«, sagte Betsy, »bis wir ausschließlich an uns selbst denken dürfen. Hast du vergessen, dass Victoria und die Kinder noch hier sind, dass Anna bleiben muss und Josepha keinen Menschen außer uns hat?«
    Betsy wurde verlegen, als ihr Mann sie umarmte. Sie waren es beide nicht mehr gewöhnt, Gefühl zu zeigen. Und doch wärmte sie der Augenblick, als ihre Lippen und ihre Körper zueinanderfanden. Es drängte sie sogar, von ihrer Liebe zu sprechen, jedoch das Wort war ihnen abhandengekommen. Johann Isidor siegte im Kampf
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