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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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die abends über den kleinsten Stein stolperte, sollten in der Rothschildallee übernachten. Alicens Zimmer war immer noch so, wie sie es hinterlassen hatte, das Bett bezogen, die Couch mit Kissen und einem Plüschäffchen bestückt und genug Decken, dass Fanny und Salo auf der Erde schlafen konnten. Anna und Hans sollten im vierten Stock bei Clara übernachten.
    »Die Frankfurter Nächte eignen sich nicht mehr gut für Fahrradtouren«, meinte Erwin.
    Niemand kam auf die Idee, dass er, der sich den ganzen Abend in seine Beklemmung und Zukunftsangst zurückgezogen hatte, zum Schluss aufstehen und mit dem Kaffeelöffel ans Glas klopfen würde.
    »Nein, nicht die feine Damenrede«, wehrte er ab, »und auch kein Aufruf zum Spenden für einen Kreuzzug ins Gelobte Land. Nur eine Bitte, aber weiß Gott keine kleine. Wir alle drei möchten nicht, dass einer von den hier Anwesenden mit zum Bahnhof kommt. In dem Moment allein zu sein, wenn das Herz bricht, macht es möglich weiterzuleben. Aber ein Abschied mit Tränen bedeutet, ein Leben lang den Schmerz nicht mehr loszuwerden.«
    »Genauso hat Otto gedacht, nur konnte er es nicht so poetisch ausdrücken wie du. Er wollte durchaus allein in den Krieg.«
    »Und hast du ihn gelassen, Vater?«
    »Selbstverständlich«, sagte Johann Isidor. Er errötete nicht. Um ein Haar hätte er gar gelächelt. Lügen in der Not und aus Liebe hatten sein Gewissen nie beschwert. Nur vermied er es, Betsy anzuschauen.
    Der Zug fuhr um sechs Uhr in der Frühe ab. Er stand mit dampfender Lokomotive auf dem Gleis, als Erwin, Clara und Claudette hinter dem Gepäckträger herliefen. Sie gaben sich Mühe, wie ganz gewöhnliche Reisende auszusehen, die es im Novembernebel nach Italiens Sonne dürstete – nicht wie nervöse Auswanderer, auf die das Exil wartete. Bis zur letzten Reisetasche hatten sie die Ratschläge der Erfahrenen befolgt, kein teures Gepäck, sondern handliche kleine Koffer mitzunehmen, denen man Gebrauch und Verschleiß ansah. Die Entwicklung in Deutschland war Ende 1937 auch schon so weit, dass eine Gruppe weinender Menschen, die sich um einen Reisenden scharte, Aufmerksamkeit erregte. Als Clara in den Zug einstieg, sah sie die Männer im schwarzen Mantel und mit schwarzem Hut, vor denen man sie gewarnt hatte. Es hieß, die Gestapo würde alle Züge überwachen, die ins Ausland fuhren.
    Erwin hatte noch ganz andere Geschichten gehört, von greisen Männern, die man aus dem Zug geholt und des Schmuggelns bezichtigt hatte, von Ehepaaren, die getrennt worden waren und die Wochen später eine Postkarte aus Buchenwald geschrieben hatten. Von dem, was er wusste, hatte er mit niemanden gesprochen. Er nickte Clara zu. »In Italien ist es vorbei«, flüsterte er.
    »In Kufstein«, schniefte Clara. »Österreich kommt vor Italien. Ich glaube, jetzt wird es endgültig Zeit, dass du dich in der Welt auskennen lernst.«
    »Das ist ja noch nicht einmal Gott gelungen. Sonst würden wir nicht hier sitzen.«
    »Was ist vorbei«, fragte Claudette, »der Schmerz?«
    Sie saßen im stehenden Zug und hofften, sie würden allein im Abteil bleiben. Rosen im Korb einer Blumenfrau narrten die Augen mit ihrer Schönheit, doch sie ließen das Herz erstarren.
    »Ich bin noch nie weiter als Baden-Baden mit der Eisenbahn gefahren«, fiel Clara ein.
    »Und ich nach Berlin«, seufzte Erwin, »doch das war in einem anderen Leben.«
    »Ich hab’s nur bis Bad Vilbel geschafft«, sagte Claudette. Sie zog mit aller Kraft an einem Ledergurt und ließ das Abteilfenster herunter. Die einströmende Luft war kalt und feucht. Dennoch atmete die Reisende tief ein. Einen Herzschlag lang genoss sie die Befreiung und den Anblick eines Kindes mit weißen Gamaschen und einem kobaltblauen Luftballon in der Hand.
    Claudette lehnte sich weit zum Fenster hinaus, Rücken und Nacken waren steif und kalt. Dann wurde ihr bewusst, dass ihre Augen brannten und das Herz trommellaut schlug. Jeder Atemzug strengte sie an. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich umzudrehen. Sie starrte in das dunkle Abteil, machte den Mund auf und wieder zu, doch sie war nicht fähig zu sagen, was sie gesehen hatte.
    »Claudette, was ist denn? Du siehst so seltsam aus. Du darfst es nicht so nahe an dich heranlassen. Das ist nur der Anfang.«
    »Der Opa«, stammelte Claudette, »er ist doch gekommen.«
    Johann Isidor, barhäuptig und in einem zu dünnen Mantel, auch in seinen leichten Sommerschuhen, hatte sich nicht die Zeit genommen, um Hut und Wintersachen zu suchen.
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