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Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer
Autoren: Christiane Wünsche
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Prolog
    Draußen war alles grau in grau.
Schneeregen, wie so oft in den letzten Tagen. Dabei war schon fast März. Wollte
der Winter nie ein Ende nehmen? Der Winter. Jörg musste ungewollt schmunzeln.
Dann ließ er von dem Gedanken ab, weil er nicht hierher gehörte. Nicht in sein
Heim Kaarst-Büttgen am Niederrhein, wo Harmonie herrschte und alles seinen
Platz hatte. Oder zumindest bis vor Kurzem gehabt hatte …
    Jörg
lehnte sich an die Granitarbeitsplatte der blassgelben, hochglänzenden
Hightech-Küche und nahm einen Schluck von seinem Latte macchiato. Der
Milchschaum kitzelte angenehm an den Lippen, die Wärme und das Koffein taten
Leib und Seele gut. Streicheleinheiten. Jörg brauchte zurzeit viele davon.
Seine Frau war ihm abhanden gekommen. Anders konnte man es nicht ausdrücken.
Erst hatte sie ihn verwirrt, dann vor den Kopf gestoßen, schließlich
gedemütigt. Am Ende war sie auch noch auf und davon, als wenn sie im Recht
wäre.
    Jörg
verstand die Welt nicht mehr. Und deshalb war es ein Geschenk des Himmels, dass
es Jana gab. Jana, die ihm gegenüber an der Theke zum offenen Wohnbereich saß
und ebenfalls an einem Latte nippte. Gerade lächelte sie ihm freundlich zu. Sie
war eine wunderschöne Frau. Anfang dreißig, mit zarten Gliedern, glatter Haut,
den Augen von der Farbe edelster Bitterschokolade und diesem seidigen, glatten,
dunklen Haar, das ihr offen über die Schulter fiel. Auf den ersten Blick
erinnerte Jana wenig an seine Frau, immerhin Janas Halbschwester. Auf den
zweiten waren sie sich sehr ähnlich. Die Haltung des Kopfes zum Beispiel, das
Mienenspiel, der offene Blick. Obwohl Jules Iris von leuchtendem Blau war. Auch
Jule war schön, fand er, aber natürlich auf andere, reifere Art. Kein Wunder,
sie war vierzehn Jahre älter als Jana. Und ihr Haar … eine
wirre, widerspenstige Masse, deren Grau sie mit Färbemitteln geschickt zu
bekämpfen wusste … Er liebte es. Gerade weil es störrisch war – wie
Jule selbst.
    Traurigkeit
und Bedauern überfielen ihn. Ob sie je zu ihm zurückkam? Und ob er ihr je
verzeihen konnte? Er wusste es nicht. Ihm war nur klar, dass er in der
Zwischenzeit irgendwie weitermachen musste. Und dazu benötigte er Trost und
Rückhalt.
    Beides
gab ihm Jana. Sooft sie konnte. Wie heute morgen. Schnell hatte sie die
Zwillinge in den Kindergarten gebracht, um auf einen Kaffee zu ihm in sein Haus
im Büttger Komponistenviertel zu eilen. Jetzt trat sie zu ihm. Ganz nah.
Stellte das halb leere Macchiato-Glas ab und strich zart mit ihren schmalen
Händen durch sein dünner werdendes, blondes Haar.
    »Alles
wird gut«, flüsterte sie. »So oder so. Alles wird sich finden. Ich weiß das.
Auf chaotische Zeiten folgen Zeiten der Harmonie. Der Lauf des Lebens.« Sanft
hauchte sie einen Kuss auf seine unrasierte Wange und stellte sich dann neben
ihn. Ihre Schultern berührten sich sacht. Die Verbindung war da.
    Was
aber war mit Jule? Hatte sie die Verbindung endgültig gekappt nach ihrer Flucht
in die Eifel? Mit dem Abschalten ihres Handys beispielsweise?
    Jörg
überließ sich der Wärme, die diese jüngere, glattere Version seiner Ehefrau
neben ihm ausstrahlte und gab sich der Hoffnung hin, der Jana so optimistisch
Ausdruck verliehen hatte: Es würde wieder Zeiten der Harmonie geben. Fragte
sich nur wann.

Erster Teil: Eifelwind
    Die Kunststoffscheiben waren
beschlagen. Das Kondenswasser stand in den Fensterdichtungen. Die Gasheizung
bullerte, und die Stille im Wohnwagen war so undurchdringlich wie die
sternenlose Nacht draußen. Jule fühlte sich eingehüllt in einen Kokon, der
alles Beängstigende fernhielt. Und alle Zweifel.
    Sie
schenkte sich ein drittes Glas Rotwein ein, nahm einen Schluck und bettete den
Kopf zurück auf das Polster. Kurz schloss sie die Augen und überließ sich ganz
dem verhaltenen Ticken der Wanduhr. Außer ihrer Atmung und dem Gurgeln des
Baches stellte es das einzige Geräusch dar, das in ihre Ohren sickerte.
    Es gibt
nichts Tröstlicheres als einen Campingplatz im Winter, dachte sie träge, aber
seltsamerweise auch nichts Trostloseres. Sie kuschelte sich tiefer in die
Wolldecke und ließ ihren Blick durch den winzigen Raum schweifen.
    Alles,
was sie sah, war ihr zutiefst vertraut: die verschrammte Arbeitsplatte der
Küchenzeile mit dem zweiflammigen Kocher ebenso wie die zerschlissenen Bezüge
der Rundsitzecke in verstaubten Braun-, Grün-und Beigetönen. Jule wusste um
jeden Kratzer im Linoleumboden und hätte mit geschlossenen Augen den Griff in
der
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