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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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nicht mehr um die Unbeflecktheit seiner eigenen Weste, wenn es galt, den Hunger vor der eigenen Tür fernzuhalten. Obwohl er nach der Übertragung des Grundstücks an Fritzi Haferkorn nicht mehr verpflichtet war, für sie und seine Tochter Anna zu sorgen, schickte er, sooft es ihm möglich war, einen Boten mit Brot und Fleisch, Fett und warmer Kinderkleidung in die Textorstraße. Gelegentlich fand sich eine Kinderzeichnung in seiner Geschäftspost – in einem Kuvert ohne Absender.
    Nach und nach richtete sich Johann Isidor für die Dauer des Kriegs auf ein Dasein in einem Seelenpanzer ein. Ihm war die Neujahrsbotschaft 1917, mit der Kaiser Wilhelm II. die Truppen im Feld zu unvermindertem Kampf aufrief, kein zustimmendes Wort mehr wert. Er sah an den Hauswänden die Plakate, die zum Kauf von Kriegsanleihen mit dem Text lockten: »So hilft dein Geld dir kämpfen. In U-Boote verwandelt, hält es dir feindliche Granaten vom Leib«, doch er zeichnete keine einzige Kriegsanleihe. Als ein deutsches U-Boot den britischen Passagierdampfer »Laconia« versenkte, was sogar Josepha begeisterte, entschlüpfte ihm kein Wort des Jubels.
    Nachdem die Fünf-Pfennig-Münzen aus Kupfer eingezogen und durch Aluminiumgeld ersetzt wurden, erzählte die nunmehr achtjährige Victoria, sie hätte ihre »guten Fünf-Pfennig-Stücke« unter der Matratze versteckt und einen ganzen Haufen von ihrer Freundin Marie dazu. »Ich habe ihr dafür mein Buch vom tapferen Kanonier gegeben«, berichtete die clevere Vaterlandsverräterin.
    Ihre Mutter trat sie warnend unter dem Tisch, doch der Vater sagte: »Bravo, mein Kind. Du hast den Sternberg’schen Kopf.«
    Das war das endgültige Eingeständnis des Johann Isidor Sternberg, dass er es aufgeben hatte, ein deutscher Held zu sein. Er war, als er seinen Platz im Leben neu bestimmte, zwar wehmütig und beschämt, und er kam sich wie ein Pferd ohne Reiter vor, er war jedoch zufrieden und gewillt, nur noch ein guter Ehemann und treu sorgender Vater zu sein. Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Nur ein wenig anders, als er sich vorgestellt hatte.
    Am 1. April wurde er zu der mutigsten Entscheidung seines Lebens befohlen. An diesem Tag, ursprünglich den Narren und Spaßmachern zugedacht, wurden die Brotrationen im Deutschen Reich auf einhundertsiebzig Gramm pro Tag gekürzt. Aus verschiedenen deutschen Städten wurden Fälle von Hungertyphus und Cholera gemeldet. Die Kriegserklärung der USA an das Deutsche Reich stand unmittelbar bevor. Tante Jettchen, der man mit gutem Grund die traurige Nachricht vorenthalten hatte, erfuhr durch einen Versprecher von Josepha, dass sich der abgesetzte Zar, seine Darmstädter Gattin und seine sämtlichen Kinder in Haft befanden. Jettchen, die die Zarin als eine Schönheit aus Hessen hatte aufwachsen sehen, konnte mittags noch nicht einmal die winzige Portion gedünstete Kohlrüben mit Sauerampfersoße essen, die ihr zugedacht war. Johann Isidor bemerkte es nicht. Er war wider Erwarten nicht zu Tisch erschienen.
    Obwohl in der Posamenterie keine neue Ware mehr angeliefert wurde und die Nachfrage nach lustigen Kriegspostkarten sehr gesunken war, behielt er die Gewohnheit bei, morgens zu seinem Tagewerk aufzubrechen. Er ging stets zuerst in den Verlag und dann in sein Kontor in der Hasengasse. Nachmittags kümmerte er sich um Besorgungen, für die nicht mehr die Geschicklichkeit einer energischen Frau erforderlich war, sondern Männermut und Kaltblütigkeit. Zum letzten Punkt des Programms kam er am 1. April nicht mehr.
    Auf dem Silbertablett lag zwischen den Geschäftsbriefen an den Posamenter Sternberg ein Umschlag, der spontan seine Aufmerksamkeit erregte. Die Adresse, in Großbuchstaben und Bleistift geschrieben, deutete auf eine ungeübte Hand. Auf der Rückseite hatte der Absender nur seine Initialen vermerkt, eine Gewohnheit, die Schreibern von Bettelbriefen zu eigen war. Umso aufschlussreicher war die Adresse. Der Briefschreiber wohnte in der Textorstraße. Johann Isidor riss das Kuvert auf. Da schon bebten seine Hände.
    Fritzi Haferkorn, Amors Streich in lauer Nacht, die junge, fröhliche, unbekümmerte Frau, die sich so wunderbar mit den Wirrungen des Lebens zu arrangieren verstanden hatte, war tot. Der Malermeister Anton Wallerstadt, der vorgehabt hatte, Fritzi zu heiraten und der dies »leider verschoben hatte«, teilte dem »werten Herrn Sternberg« ihren Tod mit der Begründung mit, »Meine Verstorbene hätte das bestimmt so gewollt. Sie hat Sie sehr
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