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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Stunde ihres neuen Lebens dem Mann, den sie eines Tages Vater nennen würde, das Herz. Plötzlich kam Farbe in ihr Gesicht. Die Augen glänzten. »Schau mal, das ist mein Vater«, rief sie erregt.
    »Wie kommst du drauf? Wer hat dir denn das erzählt?«
    »Meine Mutti. Sie hat gesagt, mein Vater ist ein ganz tapferer Mann gewesen. Er war der tapferste Mann auf der Welt. Er ist ertrunken, weil er fünf Männer gerettet hat, als sein Schiff untergegangen ist. Er musste das tun, er war der Kapitän.«
    »Deine Mutter war eine kluge Frau. Wir werden sie nie vergessen, wir beide.« Er stellte den Koffer hin und beugte sich zu Anna, roch zum zweiten Mal an diesem Tag Fritzis Lavendelduft und wusste, dass es so kommen würde.
    »Zu Allerheiligen habe ich meinem Vater immer eine Kerze hier hingestellt. Darf ich das bei dir auch?«
    »Ja«, murmelte Johann Isidor. Er flehte Gott um Beistand an. »Komm, wir wollen sehen, dass wir nach Hause kommen, ehe es dunkel wird. Sonst fürchtet sich deine Puppe.«
    Das letzte Stück vom Weg, die kurze Höhenstraße, erschien ihm länger als die gesamte übrige Strecke. Er sandte abermals Stoßgebete zum Himmel, dass wenigstens seine Kinder nicht zu Hause sein würden und dass ihm Betsy und nicht Josepha die Tür aufmachen würde. Josepha konnte ihre Gesichtszüge nicht beherrschen, wenn sie zornig oder enttäuscht war. Betsy blieb immer eine Dame.
    Es war das erste Mal an diesem 1. April 1917, dem Tag der Narren, dass Gott den einen Narren erhörte.
    Betsy stand im Hof, in ihrem Einkaufsnetz vier Briketts. Sie sah ihren Mann mit einem Koffer in der rechten Hand und einem kleinen Mädchen an der linken, und sie witterte in Sekundenschnelle die Wahrheit, denn sie hatte selbst im schwindenden Tageslicht Victorias Puppe erkannt. Als die kleine Anna einen Schritt tat, sah Betsy, dass sie unter ihrem Mantel das gleiche Kleid trug, das ihr Mann kurz vor Kriegsausbruch Victoria aus Paris mitgebracht hatte.
    »Ach«, sagte Betsy. Sie sagte nur dieses eine Wort. Noch fehlten ihr die, die sie sagen wollte.
    »Ich hab es heute erst erfahren«, erklärte Johann Isidor, »wir konnten uns nicht anmelden.« Er ließ Annas Hand zu abrupt los. Das Kind stolperte, er musste es auffangen. »Das ist Anna.«
    »Und ich wette«, sagte Betsy, »ich weiß, wie ihre Mutter heißt.«
    »Hieß«, verbesserte Johann Isidor leise. Er nickte, als hätte seine Frau schon die Frage gestellt, vor der ihm graute. »Ach Betsy, ich bin so froh, dass du da bist. Ich habe dir verdammt viel zu erzählen. Ich weiß nicht, ob ein Leben ausreichen wird. Dein Mann ist ein ganz großer Taugenichts.«
    »Nein, ein Schlemihl«, widersprach Betsy. Nun war sie es, die Anna an die Hand nahm.

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