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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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schämte sich ein bisschen, dass er auf die Nägel seiner rechten Hand schaute, statt zu seiner Frau hin, doch er geriet rechtzeitig in die Balance. »Ich nehme an«, sagte er, »du hast schon von der Judenzählung gehört.«
    »Was soll das denn heißen?«, wunderte sich Betsy.
    »Man will wissen, wie viel Juden beim Militär sind. Oder gefallen. Das nennen sie Judenzählung. Das muss doch auch dir sofort klar sein, Betsy, was das für uns bedeutet? Oder verstehst du etwa das Wort nicht?«
    Betsy Sternberg verstand es nicht. Und vielen anderen, wahrlich nicht nur den Frauen, erging es ebenso. Die angeordnete »Judenzählung« reagierte auf die immer öfter laut werdenden Vorwürfe von antisemitischer Seite, die Juden seien feige Drückeberger, die sich dem Dienst an der Front mit allen möglichen Ausreden entziehen und unverhältnismäßig oft vom Militär befreit werden würden.
    Johann Isidor Sternberg, für den Vaterland das heiligste Wort seiner Muttersprache gewesen war, schonte sich nicht. Beim ersten Schlag, den ihm dieses Vaterland tat, erkannte er, dass seine Illusionen gewaltig und seine Vorstellungen von der Judenfreundlichkeit des kaiserlichen Deutschland töricht gewesen waren. Naiv wie ein Kind war er gewesen, ein romantischer Schwärmer, ein Vogel Strauß mit dem Kopf im Sand. Er hatte aus Loyalität zur Tradition und im ehrfürchtigen Gedenken an Vater und Mutter nie zum Christentum konvertieren wollen, doch die beiden Worte Assimilation und Emanzipation waren für ihn Wunderdrogen gewesen. Johann Isidor hatte besessen den uralten Traum der Juden in Deutschland geträumt, sie würden eines Tages von ihren nichtjüdischen Mitbürgern als Gleiche unter Gleichen akzeptiert werden. Des Kaisers Wort zu Kriegsbeginn »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche« hatte diesen Besessenen in einen Rausch versetzt. Nach einem solchen Satz, wie ihn Kaiser Wilhelm II. vom Balkon seines Berliner Stadtschlosses gerufen hatte, hatte das Herz der deutschen Juden seit den Anfängen der Aufklärung gehungert.
    Ab August 1914 hing die Balkonrede, vom Sekretär in der Sternberg’schen Posamenterie in Blockbuchstaben auf cremefarbenes Büttenpapier abgeschrieben, in einem silbernen Rahmen an der Wand des Herrenzimmers. Der Patriot Sternberg, der am Sedanstag und zu Kaisers Geburtstag sein Haus mit der deutschen Nationalfahne beflaggte und der in der Synagoge für das Wohl und das Kriegsglück seines Landesvaters betete, hatte bis zu dem Tag, da ihm das Gegenteil bewiesen wurde, keine Stunde gezweifelt, dass die Deutschen ihn ebenso liebten wie er sie.
    Er war trotz seiner Illusionen ein Verstandesmensch. Ihm war es nicht gegeben, sich auf die Dauer selbst zu betrügen. Obwohl er sich zunächst gewehrt hatte, die aktuellen Beweise der judenfeindlichen Stimmung zur Kenntnis zu nehmen, hatte er nach und nach doch feststellen müssen, dass der Antisemitismus in Deutschland im gleichen Maße wuchs wie die allgemeine Not. Von Tag zu Tag wurde deutlicher, dass sich die hungernden Menschen nach altem Brauch einen Sündenbock für ihre Misere suchten und dass sie sich auf die Juden geeinigt hatten.
    »Die älteste Geschichte der Welt«, war er sich mit Doktor Meyerbeer einig.
    Mit einer Diffamierung, wie sie die Judenzählung war, hatte er trotzdem nicht gerechnet. Johann Isidor erfuhr von der angeordneten Aktion erst durch einen Kommentar in der »Frankfurter Zeitung«. Der Redakteur wandte sich scharf gegen die Befragung nach der Religionszugehörigkeit im deutschen Heer. Der loyale deutsche Staatsbürger Sternberg saß, als er den Artikel las, entspannt in einem schweren Winchester-Sessel aus grünem Leder, davor stand der Laufstall seiner jüngsten Tochter. Sie spielte mit einem Stoffesel, der beide Augen verloren hatte. »Papa Otto«, jubelte Alice, als ihrem Vater die Zeitung aus der Hand fiel. Sie hielt ihm den erblindeten Esel hin und gurgelte: »Bäh!«
    Ihr Vater sah weder das Spielzeug, noch war ihm die feine ironische Pointe des Schicksals bewusst. Seine Augen wurden starr, danach erstarrte sein Körper, schließlich seine Fähigkeit, Worte zu verstehen und zu deuten. Nach einer Weile blendeten ihn Tränen, von denen er zu spät merkte, dass es die seinen waren. Im ersten Schock nahm sich Johann Isidor vor, mit niemanden über das, was er gelesen hatte, zu sprechen, seine seelische Not vor jedermann zu verbergen. An dem Freitagabend, als sein Kopf zersprang und er erkannte, dass er sein Schweigen
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